Zur Spiritualität des verstorbenen Papstes Franziskus

Generalaudienz von Papst Franziskus auf dem Petersplatz in Rom im März 2019.

 

Der am Ostermontag-Morgen, am 21. April 2025, verstorbene Papst Franziskus, der noch am Ostersonntag mit letzter Kraft den Ostersegen Urbi et Orbi spendete, hat wunderbare, theologisch durchaus tiefgründige Texte verfasst. Sie sind in der allgemeinen Berichterstattung meist untergegangen, weil sie nicht in das vorgefasste Schema „Reformer“ oder „konservativer Bewahrer“ passten. Franziskus ging es um Reformen, aber solchen des Heiligen Geistes. Er war nicht zögerlich, sondern hörte auf das, was der Geist sagt.

 

Seine letzte Enzyklika „Dilexit nos“ (Er hat uns geliebt, vgl. Röm 8,37) über „die menschliche und göttliche Liebe des Herzens Jesu Christi“ hat er vor einem halben Jahr veröffentlicht (Okt. 2024). Sie stellt sein eigentliches Vermächtnis als Jesuiten-Papst dar. Denn Jesuiten haben noch über das Zweite Vatikanischen Konzil (1962–1965) hinaus immer sehr stark die Herz-Jesu-Frömmigkeit gefördert, worauf in der Enzyklika auch eingegangen wird.

 

Ignatianische Exerzitien: Betrachtung, um die Liebe zu erlangen

So heißt es in den Nummer 145 bis 147: „Der Verlauf der Exerzitien [des Ignatius von Loyola] gipfelt in der ‚Betrachtung, um Liebe zu erlangen‘, aus der der Dank und die Hingabe von ‚Gedächtnis, Verstand und Willen‘ an jenes Herz hervorgehen, das die Quelle und der Ursprung alles Guten ist. Diese innere Erkenntnis des Herrn wird nicht durch unsere eigenen Fähigkeiten und Bemühungen geschaffen, sie wird als Gabe erbeten“ (145). „Eben diese Erfahrung steht hinter einer langen Reihe von Priestern des Jesuitenordens, die sich ausdrücklich auf das Herz Jesu bezogen haben…“

 

„Im Jahr 1883 erklärten die Jesuiten, dass ‚die Gesellschaft Jesu die äußerst angenehme Aufgabe, die ihr von unserem Herrn Jesus Christus anvertraut wurde, die Verehrung seines göttlichen Herzens zu pflegen, zu fördern und zu verbreiten, in frohem und dankbarem Geist annimmt und empfängt‘. Im Dezember 1871 weihte Pater Pieter Jan Beckx die Gesellschaft dem Heiligsten Herzen Jesu, und als Zeugnis dafür, dass dies nach wie vor ein aktueller Bestandteil des Lebens der Gesellschaft ist, tat Pater Pedro Arrupe dies 1972 erneut, und zwar mit einer Überzeugung, die in folgenden Worten zum Ausdruck kommt:

 

‚Ich möchte der Gesellschaft etwas mitteilen, von dem ich denke, dass ich es nicht verschweigen darf. Seit meinem Noviziat war ich immer davon überzeugt, dass die sogenannte >Herz-Jesu-Verehrung< symbolisch das Tiefste des ignatianischen Geistes zum Ausdruck bringt und eine außerordentliche Wirksamkeit – ultra quam speraverint – besitzt, sowohl für die eigene Vervollkommnung als auch für die apostolische Fruchtbarkeit. Davon bin ich nach wie vor überzeugt. (...) In dieser Verehrung liegt eine der tiefsten Quellen meines inneren Lebens‘“ (146).

 

„Als der heilige Johannes Paul II. ‚alle Mitglieder der Gesellschaft‘ aufforderte, ‚diese Verehrung, die den Erwartungen unserer Zeit mehr denn je entspricht, mit noch größerem Eifer zu fördern‘, tat er dies, weil er die enge Verbindung zwischen der Verehrung des Herzens Christi und der ignatianischen Spiritualität erkannte, denn ‚der Wunsch, >den Herrn innig kennenzulernen< und mit ihm von Herzen zu Herzen >einen Dialog zu führen<, ist dank der Geistlichen Übungen typisch für die geistliche und apostolische ignatianische Dynamik, die ganz im Dienst der Liebe zum Herzen Gottes steht‘“ (147).

 

Der mystischen Strömung von Louis Lallement nahe

Einen nachhaltigen Einfluss auf die Spiritualität der Gesellschaft Jesu und ihr geistliches Leben hatte der Mystiker und Jesuit Louis Lallemant (1578–1635), von dem Papst Franziskus 2013 über sich selbst bemerkte, er stehe „der mystischen Strömung von Louis Lallement nahe (Interview mit Antonio Spadaro, in: Stimmen der Zeit, Sept. 2013). Lallemant verbreitete besonders die Herz-Jesu-Andacht und macht in seiner Geistlichen Lehre deutlich, dass nur Gott der „König der Herzen“ ist; das Herz ist der eigentliche Bereich der Königsherrschaft Gottes, weil nur er es ganz befriedigen und erfüllen kann:

 

„Nur Gott hat ein Recht auf Herrschaft über die Herzen. Weder die weltlichen Mächte noch selbst die Kirche vermögen je ihren Herrschaftsbereich so weit auszudehnen. Was hier geschieht, entzieht sich ihrer Zuständigkeit. Gott allein ist hier König. Das ist im eigentlichen Sinn sein Reich. Hier schlägt er den Thron seiner Gnade auf. In diesem inneren Reich besteht seine Ehre. Unsere Vollkommenheit und unser Glück bestehen in der Unterwerfung unseres Herzens unter diese Herrschaft Gottes“ (Die geistliche Lehre, 1948, 39; 60).

 

Dabei sind die „Untertanen“ dieses inneren Königreiches Gottes selbst „wahrhaft Könige“, die all das, was weltliche Könige erstreben, in „hervorragendem Maße“ und „ewig“ besitzen: „Würde oder Glanz, Reichtümer, Vergnügen“, die bei denen mit einem reinen Herzen zusammen bestehen können „mit Schmach, Armut, Schmerzen; und diese Verbindung ist für die Heiligen eine Quelle von Verdiensten“ (45). Lallemant zufolge wollte der Sohn Gottes auf dem Weg der „zeitlichen Zeugung“ Fleisch werden, damit diese Zeugung „der ewigen Zeugung in der Gottheit ähnlich“ sei, aber auch, „weil die Menschwerdung vor allem darauf zielt, uns von der Erbsünde zu befreien, die wir an uns haben, weil wir dem Stamme Adams entsprossen sind, und um uns durch die geistige Zeugung der Taufe zu Kindern Gottes zu machen“ (56f).

 

Theologisches Tabuthema I: Erbsünde und Teufel

Franziskus hat die Erbsünde, die als allgemeine Erlösungsbedürftigkeit der Menschheit der Grund für die Heilsnotwendigkeit der Taufe als Sakrament des Glaubens ist (Mk 16,16), nicht theologisch entsorgt wie westliche Theologen nach dem Konzil. Er hat sie, die auf die „Ursünde“ Adams zurückgeführt wird, auch nicht als theologisches Tabuthema verschwiegen, sondern überaus ernst genommen. Auch den Teufel, der hinter der zur Ursünde versuchenden „Schlange“ im Paradies steht, ausdrücklich zu benennen, hat er sich in seinen Predigten und Audienzen nicht gescheut. Dazu und zum „Geheimnis des Bösen“ bemerkte der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück im Nachruf „Vom Ende der Welt nach Rom“ (Communio.de, 21. April 2025):

 

„Die barbarischen Exzesse in den politischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts hat Franziskus nicht ausgeblendet. Aber anders als manche Theodizee-Theologien, die Gott auf die Anklagebank setzen und ihn als Schöpfer der Welt auch für die sich auftürmenden Trümmer der Leidensgeschichte unmittelbar verantwortlich machen, hat Franziskus die dunkle Seite der Geschichte dem Fehlverhalten der Menschen angelastet. ‚Wo war der Mensch?‘, hat er in seiner Rede in der Gedenkstätte in Yad VaShem gefragt. Dabei hat er die abgründigen Verbrechen auf das Mysterium des Bösen bezogen. Die Täter seien geradezu zu Werkzeugen des Teufels geworden.

 

Die ungeschützte Rede vom Teufel, die auch in seinen Predigten immer wieder vorkam, hat erstaunlich wenig Kritik vonseiten der akademischen Theologie hierzulande gefunden, die sich sonst nicht scheut, dem römischen Lehramt Aufklärungsdefizite vorzuhalten. Wer wie der Papst offen mit dem Diabolischen als Faktor der Geschichte rechnet, steht ja in Gefahr, einen metaphysischen Dualismus zu befördern und den Teufel zum Gegenspieler Gottes aufzuwerten. Auch ist es riskant, mit Verweis auf die Macht des Bösen die Täter zu ‚Opfern‘ dämonischer Einflüsterungen zu stilisieren. Das könnte als nachträgliche Entlastungsstrategie kritisiert werden.“

 

Daniel Deckers kritisierte, dass Franziskus die Kinderschutzkonferenz im Vatikan im März 2019 mit einer Rede beschloss, „in der er in Sachen Missbrauch nicht Kinderschänder im Priesterrock am Werk sah, sondern den Teufel“, als „ein Schlag ins Gesicht all derer, die seit Jahren gegen moralische Lethargie in der Kirche in Sachen Gewalt gegen Kinder, Schutzbefohlenen und auch Frauen, vor allem Ordensfrauen, ankämpfen“ (FAZ, 22. April 2025).

 

„Der Teufel hat die Gewalt über den Tod“

Der Verweis auf Teufel und Dämonen soll den Menschen keineswegs entschuldigen, weil er ja in seiner Entscheidung frei ist; aber er hebt ins Licht, dass es auch „dunkle Mächte“ gibt, von denen sich der Mensch nicht einfach selbst befreien und so selbst erlösen kann. Die Macht des „Teufels“ jedenfalls wird von ihm nicht unterschätzt, schon deshalb nicht, weil dieser nach der Bibel die Todes-Gewalt hat: Jesus hat für die Menschen „Fleisch und Blut angenommen, um durch seinen Tod den zu entmachten, der die Gewalt über den Tod hat, nämlich den Teufel, und um die zu befreien, die durch die Frucht vor dem Tod ihr Leben lang der Knechtschaft verfallen waren“ (Hebr 2,14f).

 

Auch die Befreiung Israels aus der ‚Knechtschaft Ägyptens‘ im Exodus, was zu den alttestamentlichen Lesungen in der christlichen Osternacht gehört, ist in geistiger Sicht eine Befreiung von der Macht des Bösen, des Todes und des Teufels, repräsentiert durch den immer namenlosen Pharao; darauf nimmt das Missale Romanum bei der Segnung des Taufwassers in der Osternacht Bezug: „Als die Kinder Abrahams, aus Pharaos Knechtschaft befreit, trockenen Fußes das Rote Meer durchschritten, da waren sie ein Bild deiner Gläubigen, die durch das Wasser der Taufe aus der Knechtschaft des Bösen befreit sind“ (vgl. KKK 1221).

 

Franziskus bekannte, er bete jeden Morgen kurz um Beistand gegen den Teufel: „Jemand, der mich hört, könnte sagen: ‚Aber Heiliger Vater, Sie haben studiert, Sie sind Papst und glauben immer noch an den Teufel?‘“ Darauf würde er antworten: „Ja, das tue ich... Ich habe Angst vor ihm, deshalb muss ich mich ja auch so sehr verteidigen.“ Wenn die Sünden hässlich wären und nicht auch etwas Schönes hätten, dann würde niemand sündigen. „Der Teufel zeigt dir in der Sünde etwas Schönes, und er verführt dich zur Sünde.“ „Manche sagen, dass ich zu viel über den Teufel rede. Aber das ist eine Realität“ (cph/KNA; vgl. katholisch.de, 15. April 2022).

 

Auch in den Getauften bleibt die „Konkupiszenz“ (böse Begierlichkeit, böser Trieb) stets noch wirksam, weshalb der geistig-geistliche Kampf im eigenen Innern bis zum Ende unausweichlich ist: „Diese dramatische Situation der ‚ganzen Welt‘, die ‚unter der Gewalt des Bösen‘ steht (1 Joh 5,19), macht das Leben des Menschen zu einem Kampf: ‚Die gesamte Geschichte der Menschen durchzieht nämlich ein hartes Ringen gegen die Mächte der Finsternis, ein Ringen, das schon am Anfang der Welt begann…“ (KKK 409, mit Verweis auf Gaudium et spes 37,2).

 

Als geistlicher Helfer im Kampf gegen das Böse gilt biblisch besonders der Erzengel Michael. Am Hochfest der drei Erzengel Michael, Raphael und Gabriel (29. Sept. 2017) sagte Franziskus: „Wir sind ‚Brüder‘ in der Berufung.“ Engel seien kontemplativ und dienten dem Herrn; der Erzengel Michael helfe den Gläubigen, dass sie nicht dem Teufel erliegen: „Michael, hilf uns im Kampf; jeder weiß, welchen Kampf er im eigenen Leben heute austragen muss.“

 

Theologisches Tabuthema II: Geistiger Sinn der Heiligen Schrift

Zu den Tabuthemen der gegenwärtigen Bibelwissenschaft gehört auch der geistige Schriftsinn, den der Weltkatechismus erstmals in einem lehramtlichen Dokument ausdrücklich lehrt (vgl. KKK 115–119). In Abschnitt III des Artikels 3 über die Heilige Schrift steht als Überschrift: „Der Heilige Geist ist der Ausleger der Schrift“ (vgl. Dei verbum 12). Sein Symbol ist vor allem das Feuer; Jesus ist nach Lk 12,49 „gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen.“

 

Franziskus sagt entsprechend im Vorwort zur YOUCAT-Jugendbibel (2015): „Ihr haltet … etwas Göttliches in Händen: ein Buch wie Feuer! Ein Buch, durch das Gott spricht.“ Feuer und Licht für ‚Liebe‘ und ‚Erkenntnis‘ sind die Symbole der Geistes-Gegenwart des ewigen Gottes in der Schrift, die deshalb die ‚Heilige Schrift‘ ist. Im Jerusalemer Talmud heißt es von der Thora, sie sei „schwarzes Feuer auf weisem Feuer“ (Traktat Sota 8,3,37a): Gottes realsymbolische Gegenwart im Mysterium der Thora ist verhüllt in den mit schwarzer Tinte geschriebenen hebräischen Konsonanten-Buchstaben auf weißem Pergament. Jesus, so Franziskus, „der am Holz des Kreuzes vor Liebe brennt, beruft uns zu einem von ihm entflammten Leben, das sich nicht in der Asche der Welt verliert; zu einem Leben, das vor Liebe brennt und nicht in der Mittelmäßigkeit erlischt.“

 

Grundlegend ist der geistige Schriftsinn insbesondere für die Feier der eucharistischen Liturgie. Denn sie ist nach Franziskus „das Heute der Heilsgeschichte“, wie er in seinem Apostolischen Schreiben Desiderio desideravi über „die liturgische Bildung des Volkes Gottes“ (vom 29. Juni 2022) zur Notwendigkeit von Neu-Evangelisierung und Mission ausführt; dort heißt es: „Die Welt weiß es noch nicht, aber alle sind zum Hochzeitsmahl des Lammes eingeladen (Offb 19,9). Alles, was es dazu braucht, ist das Hochzeitskleid des Glaubens [vgl. Mt 22,11f; KKK 1244], der aus dem Hören seines Wortes kommt (vgl. Röm 10,17): Die Kirche schneidert es aus einem weißen, im Blut des Lammes gewaschenen Tuches (vgl. Offb 7,14). Wir sollten nicht einmal einen Augenblick Ruhe haben, wenn wir wissen, dass noch nicht alle die Einladung zum Abendmahl erhalten haben oder dass andere sie auf den verschlungenen Wegen des menschlichen Lebens vergessen oder verloren haben“ (5).

 

Sakramente: Ort der Begegnung mit dem lebendigen Jesus

Der Titel dieses Papst-Schreibens bezieht sich auf die ersten Worte Jesu vor dem letzten Abendmahl: „Mit großer Sehnsucht habe ich danach verlangt, vor meinem Leiden dieses Paschamahl mit euch zu essen“ (Lk 22,15). Die Feier der Sakramente ist „Ort der Begegnung“ mit dem auferstandenen, lebendigen, heute sich zu erkennen gebenden Jesus (wie beim ‚Brotbrechen‘ den Emmaus-Jüngern), nicht Inszenierung eines längst vergangenen Geschehens, das nur noch vage in der menschlichen Erinnerung fortlebt:

 

„Von Anfang an hat die Kirche, erleuchtet vom Heiligen Geist, verstanden, dass das, was von Jesus sichtbar war, was man mit den Augen sehen und mit den Händen anfassen konnte, seine Worte und Taten, die Konkretheit des fleischgewordenen Wortes [vgl. 1 Joh 1,1], alles von Ihm in die Feier der Sakramente übergegangen ist. Darin liegt die ganze kraftvolle Schönheit der Liturgie. Wenn die Auferstehung für uns ein Konzept, eine Idee, ein Gedanke wäre; wenn der Auferstandene für uns die Erinnerung an die Erinnerung anderer wäre, und seien sie noch so maßgebend wie die Apostel; wenn wir nicht auch die Möglichkeit einer echten Begegnung mit Ihm hätten, wäre das so, als würde man die Neuheit des fleischgewordenen Wortes für erschöpft erklären. Stattdessen ist die Inkarnation nicht nur das einzige neue Ereignis, das die Geschichte kennt, sondern auch die Methode, welche die heiligste Dreifaltigkeit gewählt hat, um uns den Weg der Gemeinschaft zu öffnen. Der christliche Glaube ist entweder eine Begegnung mit Ihm, dem Lebendigen, oder er ist nicht“ (9; 10).

 

„Deshalb hat die Kirche den Auftrag des Herrn: ‚Tut dies zu meinem Gedächtnis‘ immer als ihren kostbarsten Schatz gehütet“ (8). Dieses ‚Gedächtnis‘ ist nicht einfach das kollektive Gedächtnis einer Glaubensgemeinschaft oder das durch historische Forschung rekonstruierte Erinnerungsbild der damaligen Geschichte, sondern die Liturgie ist „Feier des Gedenkens an das Heilsmysterium. Der Heilige Geist ist das lebendige Gedächtnis der Kirche“ (KKK 1099); so heißt es in Joh 14,26: „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“

 

Wort des lebendigen Gottes nur im Heiligen Geist

Nur im Heiligen Geist ist die Bibel Wort des lebendigen Gottes und damit auch lebendige Gegenwart, nur durch ihn bezeugt die Bibel in Wahrheit und Schönheit das Mysterium der Liebe zwischen Gott und seinem Volk im Alten Bund, im christlichen Neuen Bund die Liebe zwischen dem Messias Jesus und seiner Kirche. Diese Liebe Gottes ist nur dem (von der Kirche verkündeten) Glauben offenbar, der mit den inneren, österlich erleuchteten Augen des Herzens sieht (Eph 1,18), nicht den im Äußeren verbleibenden Augen der Sinne und auch nicht einfach dem Auge des (historisch geschulten) Verstandes: „Durch den Glauben wohne Christus in eurem Herzen“ (Eph 3,17).

 

Die Er-innerung des Geistes versammelt nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch die ganze Zukunft bis zur ‚Wiederkunft‘ Christi am ‚Ende der Tage‘ im ‚Heute‘ oder im ‚Jetzt‘: „Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade; jetzt ist er da, der Tag der Rettung“ (2 Kor 6,2). Die Feier der drei Initiations-Sakramente von Glauben (Taufe), Hoffnung (Firmung) und Liebe (Eucharistie) lassen Jesus in der „Fülle der Zeit“ (Gal 4,4) gegenwärtig erscheinen als den „starken Retter“ der Welt (Lk 1,69; 2,11).

 

Papst Benedikt XVI. hat während einer gemeinsamen Feier der Eucharistie mit den Mitgliedern der Internationalen Theologenkommission (1. Sept. 2009) vor den „großen Versuchungen des Theologen“ gewarnt, die Heilige Schrift bloß rein sachlich auf ihren Informationsgehalt hin zu analysieren, ohne „den wahren Kern“ zu erfassen: „dass Jesus wirklich der Sohn Gottes war“. Demgegenüber seien „kleine“ Heilige wie Bernadette Soubirous oder Therese von Lisieux „mit einer neuen Lesart der Heiligen Schrift, die nicht wissenschaftlich war, in das Herz der Schrift eingetreten“.

 

Der Beitrag der Heiligen für das Verständnis der Heiligen Schrift

Papst Franziskus hat zum 150. Geburtstag der heiligen Theresia vom Kinde Jesus und vom Heiligen Antlitz in seinem Schreiben C’est la Confiance (Das Vertrauen, 15. Okt. 2023) den spezifischen Beitrag der Heiligen als Kirchenlehrerin herausgestellt, der „nicht analytisch (ist), wie etwa derjenige des heiligen Thomas von Aquin“, sondern „vielmehr synthetisch, denn ihre besondere Fähigkeit ist es, uns zum Zentrum zu führen, zum Wesentlichen, zum Unverzichtbaren“, nämlich der Liebe: „Eben darauf hält Theresia ihren Blick und ihr Herz gerichtet.“

 

Die aus dem Heilsmysterium erwachsende Mystik und die sie reflektierende mystische Theologie haben die Liebe Gottes zum Ziel. Das hat in der Frühen Neuzeit keiner mehr so deutlich hervorgehoben wie der Bischof von Annecy, Franz von Sales (1567–1622), nach Johannes Paul II. der „Lehrer der göttlichen Liebe“. Franziskus sieht in ihm den Lehrer seines eigenen Denkens und seiner eigenen Spiritualität, weshalb er zum 400. Todestag des Heiligen am 28. Dezember 2022 das Apostolische Schreiben Totum amoris est (Alles gehört der Liebe) veröffentlichte.

 

Darin zitiert er den heiligen Kirchenlehrer mit der Aussage: „Ihr wisst, dass das beschauliche Leben wertvoller ist als das tätige Leben. Ist aber im tätigen Leben eine innigere Vereinigung mit Gott vorhanden, dann ist es kostbarer als das beschauliche. (…) Wo mehr Liebe, da mehr Vollkommenheit.“ Seine Abhandlung über die Gottesliebe (Traité de l‘amour de Dieu, dt. Theotimus, 1616) sei keine „am grünen Tisch verfasste Theorie“, sondern vielmehr hervorgegangen „aus einem aufmerksamen Hören auf die Erfahrung“. Im Vorwort zu dem „Meisterwerk christlicher Mystik“ schreibt Franz von Sales: „Alles gehört der Liebe, alles liegt in der Liebe, alles ist für die Liebe, alles ist aus Liebe in der heiligen Kirche.“

 

Das Ziel der mystischen Theologie: Gott zu lieben

Dem Mystiker zufolge darf sich daher die Theologie nicht im spekulativen Erkennen Gottes erschöpfen, sondern muss als mystische Theologie auch zur Gottesliebe gelangen: „Das Ziel der spekulativen Theologie ist die Erkenntnis Gottes, das Ziel der mystischen, Gott zu lieben. So erzeugt die spekulative Theologie Wissenschaftler, Gelehrte und Wissende; die Mystik aber macht aus ihren Schülern glühende Menschen voller Liebe, Liebe zu Gott…“ (Feuer und Tau. Führung der Seele, 1986, 65). Weil für Christen in Jesus der Messias schon gekommen ist und in seiner Kirche gegenwärtig bleibt, konnte Franz von Sales formulieren:

 

„Das Äußere des Buchstabens ist weder Wahrheit noch Irrtum, aber nach dem Sinn, den man ihm gibt, ist er wahr oder falsch. Die Wahrheit besteht also im Sinn, der gleichsam ihr Mark ist. Wenn daher die Kirche die Hüterin der Wahrheit ist, wurde ihr der Sinn der Heiligen Schrift zur Bewahrung übergeben. Man musste ihn also bei ihr suchen, nicht im Hirn Luthers, Calvins oder irgendeines einzelnen. Daher konnte sie nicht irren, da sie immer den Sinn der Heiligen Schrift besaß“ (vgl. www.franz-von-sales.ds/literatur – Bilder und Symbole).

 

Franziskus zitiert als „Synthese“ des Denkens von Franz von Sales dessen Satz: „Sobald der Mensch ein wenig aufmerksam an Gott denkt, fühlt sein Herz eine gewisse beglückende Erregung, was beweist, dass Gott der Gott des menschlichen Herzens ist.“ Die Gotteserfahrung, so folgert der Papst, „ist eine Erkenntnis des menschlichen Herzens“:

 

„Im Herzen und durch das Herz findet jener feine und intensive Prozess statt, durch den der Mensch Gott und zugleich sich selbst erkennt, den eigenen Ursprung und die eigene Tiefe, die eigene Erfüllung im Ruf zur Liebe. Er entdeckt, dass der Glaube keine blinde Bewegung ist, sondern in erster Linie eine Haltung des Herzens. Durch ihn vertraut sich der Mensch einer Wahrheit an, die seinem Gewissen wie eine ‚sanfte Gemütsbewegung‘ erscheint, die in der Lage ist, ein entsprechendes und unabdingbares ‚Wohl-Wollen‘ für jede geschaffene Wirklichkeit zu wecken, wie er gern sagte. So betrachtet versteht man, dass es für den heiligen Franz von Sales keinen besseren Ort gab, um Gott zu finden und anderen bei der Suche nach ihm zu helfen, als im Herzen einer jeder Frau und eines jeden Mannes seiner Zeit. Er hatte dies gelernt, indem er sich selbst von frühester Jugend an mit großer Aufmerksamkeit beobachtete und das menschliche Herz ergründete.“

 

„Mein Herz ist das Herz Jesu und Mariens“

Der von Franziskus 2022 seliggesprochene Jesuit Philipp Jeningen (1642–1704) gehörte nach Uwe Scharfenecker zu „den größten Herz-Jesu-Aposteln“ seiner Zeit; er war als unermüdlicher Volksmissionar in Ellwangen tätig, seine Demut und selbstlose Haltung gipfelte in dem Bekenntnis: „Mein Herz ist nicht mehr meines; das ist längst verwest: Mein Herz ist das Herz Jesu und Mariens“ (zit. nach Scharfenecker, Der Heilige kommt, in: Gebhard Fürst [Hg.], Menschenfreund und Mystiker. Pater Philipp Jenigen – ein Seliger für heute, 2022, 20-55, 49).

 

Nach Josef Stierli hatte er in Jesu Herzen „seine beständige Wohnung aufgeschlagen. In der Verehrung des heiligsten Herzens konnte er sich nie genug tun“ (Die Herz-Jesu-Verehrung vom Ausgang der Väterzeit bis zur hl. Margareta M. Alacoque, in: Ders. [Hg.], Cor Salvatoris. Wege zur Herz-Jesu-Verehrung, 1954, 73-136, 127). Bei seinen Mitbrüdern wie unter den Gläubigen suchte auch Jeningen die Herz-Jesu-Andacht zu verbreiten und dabei zu zeigen,

 

„wie kostbar und erhaben das Herz Jesu ist! Es ist eine ganz offenbare und der Seele sozusagen unmittelbare Tatsache, dass wir im heiligen Messopfer das Herz Jesu besitzen, und in diesem heiligsten Herzen ist alles eingeschlossen. Hier haben wir verbannten Kinder Evas unsern Vater und unser Vaterhaus, in diesem heiligsten Herzen findet Gott seine Freude bei den Menschenkindern [Spr 8,31]. (…) Wenn wir in diesem Herzen uns befinden, sind wir an einem Orte, der das Paradies selbst übertrifft, ja ohne dieses Herz wäre selbst der Himmel nicht, was er ist“ (zit. ebd. 127f).

 

„Das Priestertum ist die Liebe des Herzens Jesu“

Die Kleruskongregation hat anlässlich des Herz-Jesu-Festes 2013 und dem Weltgebetstag zur Heiligung der Priester in einem längeren Schreiben an die Priester der Welt die große Bedeutung der Herz-Jesu-Verehrung gerade für sie in Erinnerung gerufen. Denn nach den Worten des heiligen Pfarrers von Ars, Jean Marie Vianney (1786–1859), des Schutzpatrons der Pfarrer, ist „das Priestertum … die Liebe des Herzens Jesu“: „Aus diesem Herzen … ist das Geschenk des priesterlichen Amtes entsprungen“ (vgl. Gérard Rossé, Der Pfarrer von Ars an seine Gemeinde, ³1983, 44).

 

Mit Bezug auf Joh 7,38f („Wie die Schrift sagt: Aus seinem Innern werden Ströme von lebendigem Wasser fließen. Damit meinte er den Geist…“) heißt es in dem Schreiben, auch aus dem Priester „können Ströme von lebendigem Wasser fließen, in dem Maße, wie er die Worte Christi gläubig trinkt und sich dem Wirken des Heiligen Geistes öffnet“. Am Ende wird aus einer Predigt von Benedikt XVI. zum Abschluss des Priesterjahres (11. Juni 2010) zitiert:

 

„Aus der geöffneten Seite des Herrn, aus seinem geöffneten Herzen entspringt der lebendige Quell, der die Jahrhunderte hindurch strömt und die Kirche schafft. Das offene Herz ist Quell eines neuen Lebensstroms; Johannes hat dabei gewiss auch an die Prophezeiung des Ezechiel gedacht, der aus dem neuen Tempel einen Strom hervorkommen sieht, der Fruchtbarkeit und Leben schenkt (Ez 47): Jesus selbst ist der neue Tempel, und sein offenes Herz ist die Quelle, aus der ein Strom neuen Lebens kommt, das sich uns in der Taufe und in der Eucharistie mitteilt. (…) Im Glauben trinken wir gleichsam aus dem lebendigen Wasser von Gottes Wort. (…) Jeder Christ und jeder Priester sollte von Christus her Quelle werden, die anderen Leben mitteilt. Wir sollten einer dürstenden Welt Wasser des Lebens schenken.

 

Maria und Kirche: Braut der eschatologischen Hochzeit

Franziskus und Benedikt XVI. standen sich theologisch durchaus nahe, auch wenn sie vom Temperament und der kulturellen Prägung ganz unterschiedlich waren. Nicht zuletzt stimmten sie überein in der Verehrung der heiligen Jungfrau und Gottesmutter Maria (die Basilika Maria Maggiore hat Franziskus testamentarisch zu seiner Begräbnisstätte bestimmt). Als Immaculata ist Maria die große Schlangenzertreterin: Gott setzt gemäß Gen 3,15 „Feindschaft“ zwischen dem ‚Nachwuchs‘ oder ‚Samen‘ der Frau und dem der Schlange: Ihr Nachwuchs trifft (tritt) die Schlange an ihrem „Kopf “ oder ihrem ‚Anfang‘, die Schlange trifft ihn „an der Ferse“.

 

‚Ferse‘, akew, bedeutet ‚Alternative‘: die Wahl zwischen Gut und Böse. Mit der Ferse wird der „Staub“ der Erde berührt. Der Messias, der den Tod in seiner Auferstehung überwindet, hat nicht diese ‚Achilles-Ferse‘: das Sündigen-Können. In der Kraft seines Heiligen Geistes gewinnt der Mensch neuen Stand in der Neuerschaffung nach dem Bild Christi (Kol 1,15) oder Gottes „in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,24); dazu ist der Mensch von Anfang an berufen: „Das ist es, was Gott will: eure Heiligung“ (1 Thess 4,3).

 

Sie geschieht neben der Taufe vor allem in der Feier der Eucharistie als „Hochzeitsmahl des Lammes“ (Offb 19,9), die schon die eschatologische Hochzeit des Schöpfers und seiner geliebten Schöpfung antizipiert. Sie wird auch vorweggenommen in der Kreuzeshingabe des Gotteslammes als Bräutigam der Kirche und des himmlischen Jerusalem sowie in der Einwohnung des Logos im Fleisch der Menschheit in der Jungfrau Maria. Franziskus predigte am Hochfest der Gottesmutter Maria am Neujahrstag 2020, dem Oktavtag von Weihnachten:

 

„Am Neujahrstag feiern wir diese Hochzeit zwischen Gott und Mensch, die im Schoß einer Frau ihren Anfang genommen hat. In Gott wird für immer unsere Menschheit sein, und Maria wird für immer die Mutter Gottes sein. Sie ist Frau und Mutter, das ist das Wesentliche. Von ihr, der Frau, ist das Heil ausgegangen, und folglich gibt es ohne die Frau kein Heil.“ Was von Maria gesagt wird, gilt im Prinzip auch für die Kirche. Auch sie ist in der Taufe jungfräuliche Mutter der Getauften, die durch die Gnade des Heiligen Geistes „eine neue Schöpfung“ sind (2 Kor 5,17).

 

Das Weihepriestertum gründet in der Berufung durch Jesus

In seinem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Querida Amazonia (Das geliebte Amazonien, 2. Febr. 2020) hat Franziskus der Reduktion des kirchlichen Amtes auf „funktionale Strukturen“ eine Absage erteilt. Denn dies lasse annehmen, „dass den Frauen nur dann ein Status in der Kirche und eine größere Beteiligung eingeräumt würde, wenn sie zu den heiligen Weihen zugelassen würden“, was wiederum auf „eine Klerikalisierung der Frauen“ hinauslaufe und „auf subtile Weise zu einer Verarmung ihres unverzichtbaren Beitrags“ führe (QA 100). Die Gottebenbildlichkeit von Frauen und Männern begründet die gleiche königliche Würde, die durch die Taufe erneuert wird, woraus aber nicht die gleichen Rechte (und Pflichten) folgen; wird doch jeder (Hohe-)Priester „von Gott berufen, so wie Aaron“ (Hebr 5,4).

 

Klaus Berger schreibt: „Bei der Berufsentscheidung für den Dienst als Priester geht es nicht um Vorlieben oder Begabungen, sondern um das, was der Herr von mir will. Das ‚Menschenrecht der freien Berufswahl‘ gilt weder vor noch nach der Weihe. Das Verhältnis gegenüber dem Dienstherrn ist bestimmt durch dessen Nötigung. (…) Kein Mensch hat ein Anrecht auf irgendeine Art von Amt, Berechtigung, Weihe oder Vollmacht, und so ist es auch mit der biblischen Kategorie der Erwählung“ (Charisma ist kein Menschenrecht, DT, 16. Jan. 2010).

 

Das binäre Geschlechtsbild der Bibel bleibt gültig

Franziskus hat zwar die (möglichst knappe) Segnung von homosexuellen Menschen als Menschen, nicht als homosexuelle Paare erlaubt, das binäre Geschlechtsbild der Bibel hat er aber damit nicht in Frage gestellt. Daran hält auch die Vatikan-Erklärung Dignitas infinita (2. April 2024) zur „unendlichen“ Menschenwürde fest. Die „Gender-Theorie“ wird verurteilt, weil sie zu „ideologischen Kolonisierungen“ (so der Papst) führt:

 

„Über sich selbst verfugen zu wollen, wie es die Gender-Theorie vorschreibt, bedeutet ungeachtet dieser grundlegenden Wahrheit des menschlichen Lebens als Gabe [Gottes] nichts anderes, als der uralten Versuchung des Menschen nachzugeben, sich selbst zu Gott zu machen“ (57). Die Gender-Theorie und -Ideologie „versucht, den größtmöglichen Unterschied zwischen Lebewesen zu leugnen: den der Geschlechter. Dieser fundamentale Unterschied ist nicht nur der größtmöglich vorstellbare, sondern auch der schönste und mächtigste: Er bewirkt im Paar von Mann und Frau die bewundernswerteste Gegenseitigkeit und ist somit die Quelle jenes Wunders, das uns immer wieder in Erstaunen versetzt, nämlich die Ankunft neuer menschlicher Wesen in der Welt. (…)

 

Diese [Gender-]Ideologie stellt eine Gesellschaft ohne Geschlechterdifferenz in Aussicht und höhlt die anthropologische Grundlage der Familie aus. Man darf nicht ignorieren, dass ,das biologische Geschlecht (sex) und die soziokulturelle Rolle des Geschlechts (gender) unterschieden, aber nicht getrennt werden (können)‘ [so erneut Franziskus]. Deshalb sind alle Versuche abzulehnen, die den Hinweis auf den unaufhebbaren Geschlechtsunterschied zwischen Mann und Frau verschleiern: „(M)an (kann) das, was männlich und weiblich ist, nicht von dem Schöpfungswerk Gottes trennen (…), das vor allen unseren Entscheidungen und Erfahrungen besteht und wo es biologische Elemente gibt, die man unmöglich ignorieren kann‘ [Franziskus]. Nur wenn jede menschliche Person diesen Unterschied in Wechselseitigkeit erkennen und akzeptieren kann, wird sie fähig, sich selbst, ihre Würde und ihre Identitat voll zu entdecken. (…) Uber Notwendigkeit der Achtung der natürlichen Ordnung der menschlichen Person lehrt Papst Franziskus: ‚Die Schöpfung geht uns voraus und muss als Geschenk empfangen werden. Zugleich sind wir berufen, unser Menschsein zu behüten, und das bedeutet vor allem, es so zu akzeptieren und zu respektieren, wie es erschaffen worden ist‘“ (58; 59; 60).

 

Der heilige Franziskus als Namensgeber und Programm

Für Franziskus, der als erster Papst der Kirchengeschichte den Namen des Poverello von Assisi als Papstnamen und damit als sein Programm wählte, war der heilige Franziskus ein Mann von Frieden und Armut sowie ein Mann, der „in Jesus Christus verliebt ist und sich nicht scheut“, sich zum Narren zu machen, um ihm nachzufolgen. Seine Nachahmung des armen Christus und seine Liebe zu den Armen gehören zusammen wie „die zwei Seiten derselben Medaille“ (Papst: Mein Namensgeber Franziskus wird „so missverstanden“, katholisch.de, 31. Okt. 2022).

 

Zum gottgeweihten Leben der Ordensleute erklärte Franziskus, dass es die Schönheit sieht, wenn es „unerschütterlich in der Liebe des Herrn verbleibt... Es sieht, dass die Armut nicht riesige Anstrengung bedeutet, sondern eine höhere Freiheit, die uns Gott und die anderen als wahre Reichtümer schenkt. Es sieht, dass die Keuschheit keine karge Unfruchtbarkeit ist, sondern der Weg zu lieben, ohne zu besitzen. Es sieht, dass der Gehorsam keine Zucht ist, sondern der Sieg über unsere Anarchie nach dem Stile Jesu“ (vaticannews.va, 1. Febr. 2020).

 

Franziskus hat am Ende des Heiligen Jahres 2016 einen katholischen Welttag der Armen ins Leben gerufen, der alljährlich am zweiten Sonntag vor dem Advent begangen wird. Der Tag soll das Thema Armut als „Herzensanliegen des Evangeliums“ in den Blick rücken und zu einer Glaubenserneuerung in den Kirchengemeinden beitragen. Rund um den Tag organisiert der Vatikan besondere Hilfen für Bedürftige. In seiner Botschaft zum Welttag am 13. Nov. 2022 bezeichnete Franziskus den Tag als „eine gesunde Provokation, um uns zu helfen, über unsere Lebensweise und die vielen Formen der Armut der Gegenwart nachzudenken“ (vgl. www.welttagderarmen.de).

 

Gottes Stimme neu hören – auch dank Dichtung und Literatur

Der Papst hat den heiligen Franziskus, Inspirator für sein Pontifikat, als „Apostel des Ohres“ bezeichnet. Denn er hörte auf die Stimme Gottes, auf die Stimme der Armen und in seinem Sonnengesang auch auf die Stimme der Schöpfung (vgl. den Dokumentarfilm von Wim Wenders Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes, 2018). Nach dem Talmudtraktat Sanhedrin (bSanh 98a) kommt der Messias und Erlöser dann, „wenn ihr heute seine Stimme hören werdet“ (Ps 95,7; vgl. Hebr 3,15).

 

Zum tieferen Hören der Stimme Gottes gehört für Franziskus nicht zuletzt die intensive Beschäftigung mit Dichtung und Literatur (einer seiner Lieblingsdichter war Friedrich Hölderlin). Um die Liebe zum Lesen von Dichtung und Literatur wiederzuerwecken, hat er sich in einem langen Brief (17. Juli 2024) „Gedanken über die Bedeutung der Literatur für die Bildung“ gemacht. Als „Definition von Literatur“ zitiert er darin den argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges mit dem Wort, „die Stimme von jemandem“ hören (20):

 

„Vergessen wir nicht, wie gefährlich es ist, nicht mehr auf die Stimme des anderen zu hören, der uns befragt! Wir fallen sofort in die Selbstisolierung, wir geraten in eine Art ‚geistige‘ Taubheit, die sich auch negativ auf unsere Beziehung zu uns selbst und auf unsere Beziehung zu Gott auswirkt, ganz gleich, wie viel Theologie oder Psychologie wir studieren konnten. Auf diesem Weg, der uns für das Geheimnis der anderen sensibilisiert, können wir durch die Literatur lernen, ihre Herzen zu berühren“  (ebd.).

 

„Wie könnte man an dieser Stelle nicht an das mutige Wort erinnern, das der heilige Paul VI. am 7. Mai 1964 an die Künstler und damit auch an die großen Schriftsteller richtete? Er sagte: ‚Wir brauchen euch. Unser Dienst ist auf eure Mitarbeit angewiesen. Denn, wie ihr wisst, besteht Unser Dienst darin, die Welt des Geistes, des Unsichtbaren, des Unaussprechlichen, Gottes zu verkünden und zugänglich und verständlich, ja sie ergreifend zu machen. Und in diesem Vorgang, der die unsichtbare Welt in zugängliche, verständliche Formeln überträgt, seid ihr Meister.‘ Das ist der springende Punkt: Die Aufgabe der Gläubigen und insbesondere der Priester besteht gerade darin, das Herz der Menschen von heute zu ‚berühren‘, damit sie angerührt werden und sich für die Verkündigung Jesu, des Herrn, öffnen, und in diesem Bemühen ist der Beitrag, den die Literatur und die Poesie leisten können, von unschätzbarem Wert“ (21).

 

Frei machende Wahrheit: Zusammenklang von Innen und Außen

Mit Karl Rahner spricht Franziskus von einer „tiefen geistlichen Verwandtschaft zwischen Priester und Dichter“ (23). Rahner zufolge sind die Worte des Dichters „Worte der Sehnsucht“ und „Tore zur Unendlichkeit, Tore ins Unübersehbare. Sie rufen das Ungenannte. Sie strecken sich aus nach dem Ungreifbaren“. Dies sei auch dem Wort Gottes eigen, so dass Rahner sagen konnte, „das dichterische Wort ruft darum Gottes Wort“ (zit. ebd. 24).

 

„Für die Christen ist das Wort Gott, und alle menschlichen Worte tragen Spuren einer innewohnenden Sehnsucht nach Gott in sich, die auf dieses Wort hinzielt. Man kann sagen, dass das wahrhaft dichterische Wort in analoger Weise am Wort Gottes teilhat, so wie es uns der Hebräerbrief in aufrüttelnder Weise vorstellt.“ In Hebr 4,12 heißt es: „Denn lebendig ist das Wort Gottes, kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens.“

 

Die Literatur ist für Franziskus so der Ort, wo es „um Fragen der Ausdrucksform und des Sinns (geht). Sie stellt daher eine Art Schule der Unterscheidung dar, die die Fähigkeiten des zukünftigen Priesters zur inneren und äußeren Prüfung schärft. Der Ort, an dem sich dieser Zugang zur eigenen Wahrheit eröffnet, ist das Innere des Lesers, der unmittelbar in den Prozess des Lesens einbezogen ist“ (26).

 

Im Vorwort zu dem Buch des Dichters Luca Milanese (Rime a sorpresa - Reime der Überraschung) schreibt Franziskus: Luca zwingt uns (mit seinen Gedichten) dazu, uns daran zu erinnern, dass die erste Art des Mitleids das Zuhören ist. Es gäbe keine Poesie, wenn keiner bereit wäre, sie zu hören. Wenn unsere Zeit arm an Poesie ist, dann nicht, weil es weniger Schönheit gibt, sondern weil wir Schwierigkeiten haben, zuzuhören.

 

Die Wahrheit im eigenen Inneren und die Wahrheit des Wortes Gottes sind kein Gegensatz, sondern bedingen einander. Auch die Offenbarung des Wortes der Bibel und des Werkes der Schöpfung sind kein Gegensatz, sondern gehören wesentlich zusammen (wie die Liturgie zeigt). So ist jeder Mensch als „Bild Gottes“ immer auch schon innerlich von der Offenbarung berührt. Und nur so ist Gottes Wort keine ‚Fremdbestimmung‘, sondern wirklich die Wahrheit, die „euch befreien“ wird (Joh 8,32).

 

Dante Alighieri: Pilger und Prophet der Hoffnung

Neben einigen lateinamerikanischen Autoren und Friedrich Hölderlin schätze Franziskus insbesonders auch Dante Alighieri. Zu Dantes 750. Geburtstag (2015) betonte der Papst, Dantes spirituelle Wanderung durch die drei Jenseitsbereiche Hölle, Reinigungsfeuer und Paradies sei „als eine große Reise, ja als eine wahre Pilgerfahrt“ zu verstehen, „sowohl auf persönlicher und innerer Ebene als auch auf gemeinschaftlicher, kirchlicher, sozialer und historischer Ebene“. Sie stelle „das Paradigma einer jeden authentischen Reise dar, auf der die Menschheit dazu aufgerufen ist, das hinter sich zu lassen, was Dante als ‚das Plätzlein unsres grimmigen Gedränges‘ bezeichnet (Paradiso XXII,151), um zu einem neuen Seinszustand zu gelangen, der durch Harmonie, Frieden und Glück gekennzeichnet ist“.

 

 

 

In seinem Apostolischen Schreiben Candor lucis aeterna (Der Glanz des ewigen Lichts) zu Dantes 700. Todestag (25. März 2021) äußerte Franziskus seine Überzeugung, dass Dante durch eine tiefe und innige Erfahrung verwandelt und erneuert worden sei „dank der Vision, die ihn aus den Tiefen der Hölle, aus dem tiefsten menschlichen Elend, zur Schau Gottes selbst erhoben hat“. Deshalb könne der „Dichter der menschlichen Sehnsucht“ und „Prophet der Hoffnung“ uns auch heute helfen, „mit Gelassenheit und Mut auf der Pilgerreise des Lebens und des Glaubens voranzuschreiten, zu der wir alle berufen sind, bis unsere Herzen den wahren Frieden und die wahre Freude gefunden haben, bis wir das letzte Ziel der ganzen Menschheit erreichen, ‚die Liebe, die auch die Sonne bewegt und die anderen Sterne‘ (Paradiso XXXIII,145)“.

 

 

Klaus W. Hälbig

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0