Die Hochzeit zu Kana: Jesus verwandelt das Wasser in den sechs Krügen zu wohlschmeckendem Wein; rechts Maria, die die Initiative für das Wandlungswunder ergreift. Rottenburg, Wallfahrtskirche Weggental (Krippe).
Kardinal Walter Kasper hat 2916 in dem Beitrag Evangelium der Freude. Impulse von Papst Franziskus bemerkt, der Hauptgrund für die heutige mangelnde Strahlkraft des christlichen Glaubens besteht in der „Trägheit des Herzens“, lat. acedia: eine „Schwunglosigkeit nach oben, die zu einer Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit in geistlichen Dingen führt.“ „Die mystische Dimension scheint uns abhandengekommen zu sein.“ „Die acedia ist unser Grundproblem geworden“ (in: George Augustin [Hg.], Die Strahlkraft des Glaubens. Identität und Relevanz des Christseins heute, 2016, 12-14).
Der biblische Grundtext der jüdischen und christlichen Mystik ist das Hohelied der Liebe. Der Mystiker Bernhard von Clairvaux (1090–1153) hat diesem „Lied der Lieder“ 86 Predigten gewidmet, ohne damit an ein Ende zu kommen. Darüber, was die menschliche Seele empfindet, wenn sie
der göttliche Bräutigam besucht, schreibt er:
„Allein aus der Bewegung des Herzens … wurde ich seiner Gegenwart inne; … und aus der wenn auch noch so geringen Besserung meiner Sitten erfuhr ich die Güte seiner Sanftmut; und aus der Wiederherstellung und Erneuerung meines Geistes und Sinnes, das heißt meines inneren Menschen (Eph 4,23), lernte ich, wie auch immer, die Schönheit seiner Gestalt (Ps 49,2) kennen; und bei der Zusammenschau all dieser Dinge zusammen schrak ich zurück vor seiner gewaltigen Größe (Ps 150,2). Weil aber das alles, sobald das Wort weggeht, sogleich in einer Art Trägheit starr und kalt dazuliegen beginnt, wie wenn du unter einem kochenden Topf das Feuer wegnimmst, und mir das ein Zeichen seines Fortgehens ist, muss meine Seele zu Tode betrübt sein (Mt 26,38), bis es [das Wort] wieder zurückkehrt und mein Herz mir wieder wie früher aufwärmt (Ps 108,22); und dass ist mir Anzeichen seiner Rückkehr“ (Honig aus dem Felsen, 2021, 60).
Die Fleischwerdung des Wortes ist verborgen im Alten Testament enthalten
Bernhard verweist in diesem Text auf zahlreiche Schriftstellen, insbesondere aus dem Psalter. Dabei verstand man den Psalter Davids nach Michael Schneider als Zusammenfassung der ganzen Schrift, aber auch als Gebet Christi und als Gebet der Kirche zu Christus (als ‚Herr‘ beziehungsweise Gott) gemäß Lk 24,44f: „Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich (Jesus) gesagt ist. Darauf öffnete er ihnen die Augen für das Verständnis der Schrift“ (Theologie des christlichen Gebets, 2015, 318-368). Mit ‚österlichen‘ Augen gelesen ist das ganze Leben Jesu schon im Alten Testament verborgen, also auf ‚mystische‘ Weise, vorausgebildet und ‚prophetisch‘ vorausverkündet.
Die große Bedeutung des Psalters für die frühe Kirche, insbesondere auch des Mönchtums, gründet in seiner christologischen, auf Christus bezogenen Deutung, der mit seiner Menschwerdung göttliche und menschliche Natur vereint: „Im Wort der Psalmen hört der Beter die Stimme des Herrn. Durch die Übertragung des Kyriostitels von Jahwe auf Christus lasst sich der Psalm beten als ein Wort ‚de Christo‘ (Apg 2,33) wie auch als ein Wort ‚ad Christum‘ (Hebr 1,20ff).“ Daraus folgt, dass Christus sowohl der Beter der Psalmen ist, wie auch „der Gott der Psalmen“. Der Beter vernimmt so „die Stimme Christi, die schon vor der Menschwerdung das Erlösungswerk vorausverkündet“ (323f). Der Psalter wird damit als messianische Prophetie auf Christus hin und von ihm her gelesen.
Nach Athanasius „verkündet der Psalter fast in jedem Psalm, dass der Heiland kommen und dass Gott selber Mensch werden wird“; und weiter: „Kein größeres Geschenk konnte Gott den Menschen machen, als dass er sein Wort, durch das er alles geschaffen hat, ihnen zum Haupt gibt und die Menschen ihm als Glieder anfügt, damit der Sohn Gottes auch Sohn der Menschen sei, ein Gott mit dem Vater, ein Mensch mit den Menschen“ (zit. ebd. 324). Das christliche Beten wird so bestimmt von der Beziehung zwischen Haupt und Leib, Christus und seiner Kirche. Schneider bemerkt zum christologischen und ekklesiologischen Verständnis der Bibel:
„Das ganze Alte Testament ist Vorbild für die Verbindung Christi mit der Kirche, die schon im Paradies begann. Das Wort [des Augustinus] vom ‚Christus totus‘ besagt, dass der Herr von seiner Kirche nicht zu trennen ist. (…) Als das Haupt der Kirche ist Christus so sehr eins mit ihr, ‚dass die im Psalm ergehende vox Christi ad Patrem auch zur vox ecclesiae zum Vater werden kann‘. Die Psalmen führen den Beter vom ‚individuellen‘ zum ‚universalen‘ Christus, so dass jeder im Leib Christi einstimmt in das Gebet Christi zum Vater, wie auch die ‚vox Christi vel ecclesiae ad Patrem‘ übergeht in die ‚vox ecclesiae et membrorum ad Christum‘“ (325f).
Die christliche Deutung des Alten Testaments ist „mystisch“
Die alte Kirche hat das Wort „mystisch“ für die Deutung des Alten Testaments nach dem verborgenen christologischen Schriftsinn als Einheit von geistig-göttlichem und körperlich-menschlichen Sinn verwendet. Der Mensch hat eine verborgene unsterbliche („göttliche“) Geistseele und einen sichtbaren sterblichen Leib; entsprechend hat auch die Schrift einen mystischen Sinn als Geistseele und einen „buchstäblichen“ Sinn oder Literalsinn als „Körper“ was christlich vollendet wird in der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur in Christus. Die Doppel-Natur des Menschen vergleicht der jüdische Exeget und Philosoph Philo von Alexandrien (1. Jh.) mit dem „lebendigen“ (Hebr 4,12) Wort Gottes in seinem zweifachen Sinn:
„Denn die ganze Tora scheint … etwas wie ein lebendiges Wesen zu sein; der Wortsinn ist dabei der Körper, die Seele aber ist der geheime Sinn, der dem geschriebenen Wort zugrunde liegt“ (Philo, De vita contemplativa, ed. Conybeare, S. 119, zit. nach Bernhard Uhde, West-östliche Spiritualität – Der innere Weg der Weltreligionen, 2011, Art. Mystik, 66-76, 71). Bernhard Uhde zufolge wird jüdische Mystik als Weg verstanden, „durch aufsteigende Kenntnis von Tora und deren Geheimnissen zur Gegenwart Gottes selbst zu gelangen“ (ebd.).
Die fünf Bücher Mose, die Thora, sind der Kern oder das Herz des Alten Testaments; das erste Buch Genesis ist der „Kern des Kerns“ oder die „Eins“ gegenüber den „vier“ anderen Büchern von Exodus bis Deuteronomium. Diese 1–4-Struktur ist grundlegend für die ganze Bibel und auch für die Schöpfung als Offenbarung Gottes. Wir finden sie im Namen Adam, Aleph-Dalet-Mem, 1-4-40, im Begriff ‚Wahrheit‘, emeth, 1-40-400, in den vier Paradiesflüssen aus dem einen Strom (Gen 2,10-14), im Kreuz mit den vier Enden und der einen Mitte, im Gekreuzigten mit den fünf Wundmalen: eine Herzwunde und vier Male an Händen und Füßen (vgl. die fünf roten Wachsstifte auf der Osterkerze) oder unter dem Kreuz in den vier Frauen mit Maria und gegenüber dem einen Lieblingsjünger ohne Namen (Joh 19,25-27).
Nimmt man den ersten Buchstaben Aleph = Eins von A-dam weg, dann bleibt die Silbe dam = Blut; nimmt man von der ‚Wahrheit‘, e-meth, die Eins weg, dann bleibt meth = Tod. Nach dem Sündenfall im verbotenen Essen vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse wird der Mensch vom Baum des Lebens und vom Paradies ausgeschlossen (Gen 3). Der Baum des Lebens, Ez HaChajim, 70-90 5-8-10-10-40, hat in der Summe der Zahlenwerte der Buchstaben den Wert 233; der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, Ez haDaath tob wara, 70-90 5-4-70-400 9-6-2 6-200-70, hat in der Summe den Wert 932; das Verhältnis von 233 zu 932 ist genau 1 zu 4. Im Sündenfall geht also die Eins, die Einheit, auch der eine unsichtbare Gott und sein Wort und Geist im Herzen (Gen 2,7), verloren; dafür kommt die Vier: die Vielheit der sichtbaren Welt.
Das Kreuz: Die Wiederherstellung des Bundes als Verbindung mit der „Eins“
Im vierten Evangelium erscheint Maria nur unter dem Kreuz (Joh 19,25-27) und zuvor auf der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-11), wo auf ihre Initiative hin Jesus Wasser in Wein verwandelt und so seine „Herrlichkeit“ offenbart. Durch diese zweimalige Erscheinung Mariens am Anfang und Ende sowie durch das Motiv der „Stunde“ (V.4), die eigentlich noch nicht gekommen ist, sondern erst mit der Stunde des Todes kommt, werden Weinwunder und Kreuzmysterium eng verbunden. Der Begriff „Herrlichkeit“ bedeutet Ehre und Glanz, Ansehen und Königswürde. Ursprünglich hat der Mensch Adam im Paradies als „Bild Gottes“ eine königliche Würde, ist er die ‚Krone der Schöpfung‘; im Psalm 8,6 heißt es: „Du (Gott) hast ihn (den Menschen) nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt.“
Diese Herrlichkeit und Ehre des Menschen als „Bild Gottes“ besteht in der Verbindung zu Gott als Schöpfer und Vater. Mit dem Sündenfall geht sie verloren; so sagt Paulus in Röm 3,23: „Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren.“ Mit der Fleischwerdung des Wortes Gottes wird die Ehre wiederhergestellt, wie es im Tagesgebet am 1. Weihnachtstag heißt: „Du (Gott) hast den Menschen wunderbar erschaffen und noch wunderbarer wiederhergestellt“ und ihm „ewige Ehre“ verliehen.
Irenäus von Lyon (2. Jh.), den Papst Franziskus am 21. Jan. 2022 zum Kirchenlehrer der Einheit (Doctor Unitatis) von Ost- und Westkirche ernannt hat, sagt: „Gottes Herrlichkeit (Ruhm) ist der lebende Mensch, das Leben des Menschen aber ist es, Gott zu sehen [Gloria enim Dei vivens homo, vita autem hominis visio Dei]. Wenn ja schon die Offenbarung Gottes durch die Schöpfung allen, die auf Erden leben, das Leben verleiht, wieviel mehr muss dann die Kundgabe des Vaters durch das Wort denen, die Gott schauen, Leben verleihen“ (Adv. haer. IV, 20,7).
Das griechische Wort theoria bedeutet ursprünglich Gottesschau; im Lateinischen wird dafür contemplatio verwendet, was in der Neuzeit dann mit „Mystik“ übersetzt wurde. Unmittelbar vor dem Wandlungswunder auf der Hochzeit zu Kana verheißt Jesus seinen Jüngern in Anspielung auf den Traum Jakobs von der Himmelsleiter: „Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn“ (Joh 1,51). Schon bei Jesu Taufe öffnet sich der Himmel; Johannes der Täufer bezeugt: „Ich sah, dass der Geist vom Himmel herabkam wie eine Taube und auf ihm (Jesus) blieb“ (Joh 1,32).
Mit der Gabe des Geistes als Gabe der Sündenvergebung (Joh 20,22f), der Reinigung und Erleuchtung im Glauben und in der Taufe (vgl. KKK 1216), öffnet Jesus dem Menschen mit seiner Geistseele wieder den Himmel für die Gottesschau, aber dies nur durch seinen Tod in der tiefsten Erniedrigung am Kreuz hindurch. Seinen Jüngern sagt er: „Es ist gut für euch, dass ich fortgehe (= sterbe). Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden“ (Joh 16,7).
Diesen Geist ‚überliefert‘ Jesus am Kreuz (Joh 19,30) als neuem Baum des Lebens zusammen mit dem „Blut“ und dem „Wasser“ aus seiner geöffneten Seite (Joh 19,34); in 1 Joh 5,7f heißt es: „Drei sind es, die Zeugnis ablegen: der Geist, das Wasser und das Blut; und diese drei sind eins.“ Am Kreuz vergießt Jesus sein „Blut des Bundes zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28) und stellt damit den Bund, die Verbindung mit dem einen Gott als „Eins“, wieder her.
Die Reinigung des Herzens: „Wasser“ und „Feuer“ des Geistes
Im Alten Testament wird der Bund, den Adam durch die Ursünde gebrochen hat, durch den gerechten Noach, die zehnte Generation nach Adam, im Zeichen des Regenbogens und der Taube mit dem Ölzweig (Salböl als Symbol des Geistes) wieder aufgerichtet (achtmal „Bund“: Gen 6,18; 9,1-17). Die durch das Wasser der Sintflut (als Vorausbild der Taufe) rettende Arche heißt teba, das ist das „Wort“ (Gottes); auch die Maße der Arche 300, 50 und 30 Ellen (Gen 6,15) ergeben als Buchstaben gelesen (Schin, Nun, Lamed) das Wort laschon: Zunge, Sprache.
Der Judaist Gabriel Strenger schreibt: „Hebräisch gilt als Laschon ha-Kodesch (Sprache der Heiligkeit), was bedeutet, dass uns diese Sprache mit der göttlichen Dimension des Lebens verbindet“ (Jüdische Spiritualität in der Tora, 2016, 27). Zur körperlichen oder buchstäblichen Sprache gehört daher notwendig ihr (wie die Geistseele) verborgener, geistiger Sinn. Deshalb kann niemand die ‚schriftliche Thora‘ als Herzstück der hebräischen Bibel recht verstehen, wenn er sie nicht im Licht der ‚mündlichen Thora‘ liest, der Tradition oder Überlieferung Israels: „Die Schriftliche Tora ist der statische Körper des Judentums, die Mündliche Tora sein dynamischer Geist“ (26) – besser: Sein und Werden.
Die Schriftliche Thora wird Mose auf dem ‚Feuerberg‘ Sinai gegeben: Das ganze Volk blieb am Fuß des Berges stehen, während Mose zum Herrn hinaufsteigt, der seinerseits herabsteigt: „Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt, denn der Herr war im Feuer auf ihn herabgestiegen“ (Ex 19,18). Dort empfängt Mose die Thora, das Buch des Bundes, mit den Zehn Geboten als Kern (Ex 201-21). Diese Thora wird als ‚Brautgabe‘ Gottes für die Braut Israel verstanden, als die Offenbarung des Wortes Gottes, und zwar an Pfingsten (Schawuot), dem „50. Tag“ nach Ostern (Pessach), wobei die Zahl 50 die 7 x7 oder erfüllte Sieben um Eins übersteigt analog zur Zahl acht. Die Zahlen 50 und 8 ‚übersteigen‘ die Sieben-Tage-Schöpfung auf die kommende Welt des „achten Tages“ hin (s. u.).
Der Bund ist ein ‚hochzeitlicher‘ Bund zwischen Gott als „Mann“ und Israel als „Jungfrau“, was im (Ehe-)Bund von Adam und Eva im Paradies vorgebildet ist. Die Annahme der Thora als Brautgabe oder ‚Hochzeitskuss‘ JHWHs sowie als Ehe-Urkunde seines ‚hochzeitlichen‘ Bundes mit seiner geliebten Braut ist ein Akt der „Verlobung“, während die eschatologisch-endzeitliche „Hochzeit“ nach aussteht, aber damit doch auch schon antizipiert wird.
Serafino Maria Lanzetta sagt: „Gemäß der jüdischen Tradition ist hier eine sponsale [bräutliche] Beziehung zwischen Gott und Israel zu sehen, das sich am Sinai mit dem Hochzeitskuss mit dem Herrn als Bräutigam vereint hat. Gott spricht durch Mose mit seinem Volk von Angesicht zu Angesicht. Gott küsst die Braut Israel, indem er ihr die Thora schenkt“ (Maria und das Alte Testament im bibeltheologischen Werk Aristide Serras, in: Manfred Hauke [Hg.], Maria und das Alte Testament, 2015, 247-274, 270).
Mit der Thora als Wort Gottes ist der Geist Gottes als reinigendes Feuer verbunden; denn die Sünde Adams ist tief im Herzen des Menschen. Bei Ezechiel ist durch die Sünde das Herz versteinert und zu Stein geworden, so kann es nicht mehr auf Gott hören und ihn sehen. Es braucht regelrecht eine ‚Herz-Transplantation‘: „Ich (Gott) gieße reines Wasser über euch aus, dann werdet ihr rein. Ich reinige euch von aller Unreinheit und von allen euren Götzen. Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch. Ich lege meinen Geist in euch und bewirke, dass ihr meinen Gesetzen folgt und auf meine Gebote achtet und sie erfüllt. (…) Dann wird man sagen: Dieses verödete Land ist wie der Garten Eden geworden“ (Ez 36,25-27.35).
Der Bund des Blutes: Beschneidung und Osterlamm
In der Mitte des Lukas-Evangeliums sagt Jesus: „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen; wie froh wäre ich, es würde schon brennen!“ (Lk 12,49). Jesus ist hier kein Brandstifter, sondern er will die gläubigen Herzen in Brand stecken, um sie zu reinigen, wie die Szene der Begegnung der Emmaus-Jünger mit dem Auferstandenen zeigt: „Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und den Sinn der Schrift erschloss?“ (Lk 24,32). Das Erschließen des mystischen Schriftsinns ist ein Akt der Einweihung oder Initiation in das Mysterium der Offenbarung Gottes. Im Christentum sind Taufe, Firmung und Eucharistie die drei Sakramente der Initiation; sie vermitteln die drei Geist-Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe.
Zwischen dem Bund des Wassers (Noah) und dem Bund des Geistes/Feuers (Mose) steht der Bund des Blutes: der Bund der Beschneidung der Knaben am „achten Tag“ mit Abraham (Gen 17,10-13). Bei Abraham wird der Glaube explizit: Ohne den Glauben als Gabe des Geistes ist die Schrift in ihrem eigentlichen Sinn nicht zu verstehen. Ohne den Glauben und den Geist lässt sich das Doppel-Gebot der Gottes- und Nächstenliebe nicht erfüllen.
Das Beschneidungs-Blut wird in der jüdischen Überlieferung mit dem Blut des Paschalammes zusammengesehen (vgl. Ex 12,48). Im Midrasch Pirkei von Rabbi Eliezer heißt es: „’Alle, die Ägypten verließen, waren beschnitten’ (Josua 5). Sie nahmen das Blut der Beschneidung und das Blut des Pessachlammes und strichen es auf die Pfosten ihrer Türen“ (zit. nach Gesa Ederberg, „Durch dein Blut sollst du leben.“ Der liturgische Gebrauch von Ez 16: die Bedeutung des Blutes für den Bund mit Gott, in: Johannes Heil u. a. [Hg.], Beschneidung: Das Zeichen des Bundes in der Kritik. Zur Debatte um das Kölner Urteil, 2012, 199-204, 201).
Jesus sagt in Joh 10,7: „Ich bin die Tür zu den Schafen.“ Und in Vers 11: „Ich bin der gute Hirte“, der sein Leben hingibt „für die Schafe“ am Kreuz als wahres Osterlamm, „das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29; vgl. Joh 19,36 mit Ex 12,46). Die Sünde der Welt ist der Bruch des Bundes, der im Blut des Lammes unverbrüchlich geschlossen wird. Im Paradies ist der Bund noch nicht unverbrüchlich, es findet erst eine „Verlobung“ statt. Die Rabbinen sahen die Erschaffung Evas aus der „Rippe“ Adams (= Mondsichel, s. u.) und die Präsentation der Frau und Braut vor Adam „als eine Art Verlobungszeremonie“: „Gott höchstpersönlich ist hier der Brautführer, der nicht nur die Braut herrichtet, sondern auch den Traubaldachin schmückt“ (Simone Rosenkranz Verhelst, Zwischen Himmel und Heiligtum. Paradiesvorstellungen im Judentum und Christentum, in: Claudia Benthien/ Manuela Gerlof [Hg.], Paradies. Topografien der Sehnsucht, 2010, 31-48, 43f).
Von der Verlobung am „siebten Tag“ zur Hochzeit am „achten Tag“
Der eigentliche Tag der Verlobung ist der siebte Tag oder Sabbat als Zeichen des Bundes; Gabriel Strenger schreibt: „Der Schabbat als Vereinigung der Gegensätze war von Anfang an das Ziel des Schöpfers“; und weiter: „In der Beziehung mit dem Ewigen erlebe ich mich als Braut, in der weiblichen Rolle der Empfängerin des Schabbats/ der Neschama [göttliche Geistseele].“ „Der achte Tag des Kabbalat Schabbat [Empfang des Sabbats] verkündet den zukünftigen Tag der Erlösung, an dem die gesamte Menschheit an den göttlichen Werten der Gerechtigkeit und Liebe teilhaben wird. (…) Jeder Sonntag ist gegenüber der vorigen Woche eine Acht, die die vollendete Sieben aufhebt und erlöst. Doch im Verborgenen ist die Acht schon am siebten Tag gegenwärtig und erfahrbar, denn der Schabbat ist … ‚eine Kostprobe des Jenseits‘ (Talmud, Berachot 75b)“ (Die Kunst des Betens. Spiritueller Leitfaden zum jüdischen Gebetbuch, 2019, 306; 304; 314).
Die eschatologische Hochzeit findet somit erst am jenseitigen „achten Tag“ statt. ‚Hochzeit‘, hebr. chathana, ist eng verwandt mit dem männlichen ‚Verlobten‘, chathan, 8-400-50; Friedrich Weinreb sagt: „Beide [Wörter] haben die Cheth, die Acht, und die Nun, die Fünfzig“ (Schöpfung im Wort, 438; vgl. auch den Namen Noach = 50-8). „Darum besteht schon von alters her der Brauch, dass die Frau bei der Hochzeit siebenmal um den Mann herumgeführt wird, und pflegt man auch sieben Tage die Hochzeit zu feiern. Denn in der Sieben [als ‚Verlobung‘] sind sie zueinandergekommen. Der achte Tag lässt sie zusammen allein, dann ist die Einsmachung vollzogen“ (438f).
Die ‚Verlobte‘ oder ‚Braut‘, kalla, 20-30-5, hat als Wortstamm Kaph-Lamed, 20-30, das heißt die 50 (438). „Der achte Tag ist die Hochzeit zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen, eine in den sieben Tagen [der Schöpfung] vorbereitete Hochzeit“ (833). Zum Zueinander zwischen dem siebten und achten Tag schreibt Weinreb: „Hier, heißt es, gibt es nur die Verlobung, hebräisch ‚arissa‘, auch ‚Backtrog‘. Der Teig ist da, um das Brot zu backen; das Brot kommt erst bei der Hochzeit, es braucht das Feuer. Wasser, da ist Verlobung – Feuer: Ewigkeit, dann erst ist Ehe, das Brot ist da“ (Das Markus-Evangelium. Der Erlöser als Gestalt des religiösen Weges, Bd. II, 1999, 755).
Bei der Hochzeit zu Kana geht der Wein der Hochzeit aus, was für die beteiligten Familien eine große Beschämung, einen Verlust an Ehre bedeutet; nur noch „Wasser“ ist in den sechs Reinigungskrügen da. Die Zahl sechs steht hier für den sechsten Tag (Freitag), der in den Drei Österlichen Tagen, dem Triduum pascale, eine Einheit bildet mit dem siebten Tag (Sabbat) und dem achten Tag (Sonntag) der Auferstehung. Wie Wasser, Blut und Geist eins sind, so sind auch diese drei Tage oder Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bei Gott eins, womit die vergängliche Zeit im Symbol des Wassers verwandelt ist in den Wein hochzeitlicher Freude.
Die Geburt der Kirche als Braut aus der Seite ihres Bräutigams
Paulus sagt im 2. Korintherbrief (11,2f): „Denn ich liebe euch mit der Eifersucht Gottes; ich habe euch einem einzigen Mann verlobt, um euch als reine Jungfrau zu Christus zu führen. Ich fürchte aber, wie die Schlange einst durch ihre Falschheit Eva täuschte, könntet auch ihr in euren Gedanken von der aufrichtigen und reinen Hingabe an Christus abkommen.“ Wie Christus der neue Adam ist, so ist die Kirche die neue Eva, die aus seiner Seite oder seinem durchbohrten Herzen geboren wird: Der Soldat stößt mit seiner Lanze in den schon toten Leib des Gekreuzigten, „und sogleich floss Blut und Wasser hervor“ (Joh 19,34), das heißt die Zeichen der Sakramente Eucharistie und Taufe, die die Kirche konstituieren.
Die Geburt der Kirche als ‚makellose‘ Braut aus ihrem Bräutigam ist zugleich auch ihre Hochzeit. Bischof Quodvultdeus von Karthago, dem Augustinus eine seiner Schriften gewidmet hat, bringt es so auf den Punkt: „O wunderbares Mysterium: die Braut wird geboren aus dem Bräutigam!“ (zit. nach Josef Stierli [Hg.], Cor Salvatoris, 1954, 70).
Augustinus selbst schreibt: „Adam schläft, auf dass Eva werde, Christus stirbt, auf dass werde die Kirche. Eva geht hervor aus der Seite des Schlafenden, Christus wird nach dem Tode mit der Lanze durchbohrt, damit nun quellen die Sakramente, aus denen sich aufbaut die Kirche“ (zit. ebd. 69). Noch das Zweite Vatikanische Konzil sagt in seiner Liturgiekonstitution: „Denn aus der Seite des am Kreuz entschlafenen Christus ist das wunderbare Geheimnis der ganzen Kirche hervorgegangen“ (Sacrosanctum Concilium 5).
Maria: paradiesische „Frau“, neue Eva, Mutter der Kirche
Urbild der Kirche in ihrem Glauben ist die jungfräuliche Gottesmutter Maria. Sie steht mit drei anderen Frauen unter dem Kreuz ihres Sohnes, wo dieser sie mit dem einen Lieblingsjünger verbindet (Joh 19,25-27). Die vier Frauen und der eine Jünger stellen das Verhältnis des Bundes 1 zu 4 dar. Es findet sich auch in den fünf verklärten Wundmalen des Gekreuzigten mit der einen Herzwunde und den vier Malen an Händen und Füßen sowie in den Kleidern, deren Jesus „beraubt“ wird: Das Obergewand teilen sich die vier Soldaten in vier Teile, das eine Untergewand war „von oben her ganz durchgewebt und ohne Naht“, so dass die Soldaten es ganz lassen und darum würfeln (Joh 19,23f).
Jesus spricht seine Mutter unter dem Kreuz als „Frau“ (gyné) an, ebenso auf der Hochzeit zu Kana (Joh 2,4). Auch das Motiv der „Stunde“ verbindet das Wandlungswunder zu Kana mit dem Kreuz. Kurienkardinal Kurt Koch, Nachfolger Kaspers als Präfekt für Ökumene und Judentum, schreibt in seinem Buch Gottes Freude und Freude an Gott (2020, 42f) zur mystischen Hochzeit von Gott und Mensch, der unio mystica, am Kreuz:
„Denn am Kreuz ist die ‚Stunde‘, von der Jesus bei der Hochzeit zu Kana gesagt hat, dass sie noch nicht gekommen ist, da, nämlich als Stunde der endgültigen Hochzeit zwischen Gott und Mensch. Diese Hochzeitssymbolik zeigt vollends, dass mit Maria, dem vornehmsten Geschöpf, das Bild und der Beginn jener neuen Menschheit vor uns steht, die in erlöster Freiheit lebt. (…) Die Kirche und der einzelne Christ leben umso mehr in erlöster Freiheit, je marianischer sie sind und dabei erkennen, dass ihre Berufung darin besteht, in das bräutliche Verhältnis zwischen Christus und Maria hinein genommen zu werden.“
Die Notwendigkeit einer Verwandlung und Enthüllung der Schrift
Das Weinwunder zu Kana wird in der alten Kirche auf die ganze Heilige Schrift bezogen, deren tieferer, mystischer Sinn oder auch göttlicher Glanz unter den schwarzen Buchstaben verborgen ist. Erst durch eine Verwandlung durch den Geist Gottes wird das Wort Gottes erfahren als „Seelenspeise“ (Dei verbum 21), als ‚berauschender‘ Wein und ‚nahrhaftes‘ Brot analog zur lebensspendenden Eucharistie, während ohne solche Verwandlung die Schrift nur wie geschmackloses Wasser ist oder wie ein ungenießbarer Stein ohne wirklichen Nährwert.
Der heilige Bonaventura (gest. 1274, vor 750 Jahren) erklärt in seinem Buch zum Sechstagewerk (Hexaëmeron) der Schöpfung, das Weinwunder bedeutet die Verwandlung des wörtlichen Sinns der Heiligen Schrift in ein geistiges oder mystisches Schriftverständnis: „Der Buchstabe [der Schrift] allein ist lediglich Wasser, das erst im geistlichen Verständnis in Wein verwandelt wird; er ist Stein, der erst zu Brot werden muss“; und: der Buchstabe ist nur der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse im Paradies; „erst im geistlichen Verständnis wird die Schrift zum Baum des Lebens“ (zit. nach Joseph Ratzinger, Die Geschichtstheologie des Heiligen Bonaventura, 1992, 64f; Hex. XIX, 8).
In der alten Kirche ist das Wort „mystisch“ nicht nur bezogen auf den geistigen Sinn der Schrift, sondern auch auf die Eucharistie als ‚Paradies-Speise‘ des Lebens; Louis Bouyer schreibt: „Man kann also sagen, dass mystisches Leben, mystische Erfahrung, im ursprünglichen Sinn verstanden, ein Leben bedeuten, das von der einzigen Wirklichkeit erfüllt ist, von der die ganze Schrift spricht, und die den Inhalt der gesamten christlichen Liturgie ausmacht (Erfahrung der Höchsten im Glauben geschehenden Einswerdung)“ („Mystisch“ – Zur Geschichte eines Wortes, in: Josef Sudbrack [Hg.], Das Mysterium und die Mystik, 1974, 57-75, 71). Diese Einswerdung geschieht in der Liebe der Eucharistie. Für die Kirchenväter bedeutet das Wort ‚mystisch‘ somit „einen zugleich biblischen und sakramentalen Vorstellungsbereich“ (67).
Durch den geistigen Sinn ist schon das Alte Testament ein Neues Testament, es besteht dann kein Unterschied mehr, sondern beides ist eine Einheit, ein harmonischer Einklang. Henri de Lubac sagt mit Bezug auf Rupert von Deutz: „Sobald das Evangelium erklungen ist, sind Propheten und Apostel gleichsam ein einziger Chor, und der Gläubige betrachtet sie in ihrer wunderbaren Verbindung. (…) denn die ganze Heilige Schrift stimmt mit sich selbst überein, ist sie doch in einem Geist geeint“ (Typologie Allegorie Geistiger Sinn, 1999, 128).
Der Traum Jakobs von der Himmelsleiter und das Kreuz Christi
Der Einklang oder Glehklang zwischen beiden Testamenten ohne störenden Missklang führt „zu einem Zustand friedlicher Beschauung wie in einem ekstatischen Traum“ (130). „Der Geist, der weht bei der Ankunft des göttlichen Wortes, (öffnet) den Garten der Schrift und lässt aus seinen Quellen die Ströme von geistigem Sinn hervorgehen“ (155). Einen ‚ekstatischen Traum‘ träumt schon Jakob, wenn er von einer ‚Leiter‘ träumt, die Himmel und Erde verbindet. ‚Leiter‘, sulam, 60-30-40 = 130, hat denselben Zahlenwert wie Sinai, 60-10-50-10 = 130, sowie ‚Auge‘, Ajin, 70-10-50 = 130. Das Auge ist dann ‚gesund‘ (vgl. Mt 6,21f), wenn es nicht nur das sichtbare Äußere im Symbol der Sieben oder Siebzig sieht (= der äußere Zahlenwert des Buchstabens Ajin), sondern zugleich die hintergründig verborgene Einheit in Gott.
Jakob ruft nach seinem Traum von der Himmelsleiter aus: „Wie ehrfurchtgebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels. (…) Dann gab er dem Ort den Namen Bet-El (Haus Gottes). Früher hieß die Stadt Lus“ (Gen 28,17f). Lus heißt übersetzt ‚Mandel‘; der Mandelbaum blüht als erster nach dem Winter und gilt daher als Zeichen der Auferstehung. In der Reihe der Früchte, der sieben Arten des Wachstums, ist die Mandel die achte Frucht, wo man den ‚Kern‘ isst, der man selbst ist; Weinreb schreibt: „Jakob legt sich also an den Ort der Mandel, den Ort des achten Tages, den Ort der Erlösung. Dann sieht er den Himmel sich öffnen und schaut Gott“ (Die Astrologie in der jüdischen Mystik, 1982, 162). Wenn sich der Himmel öffnet, lässt sich Gott mystisch schauen.
Der Vers Gen 28,17 („Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels“) stand und steht über den Portalen von Kirchen (z. B. Evang. Stadtkirche Schiltach im Schwarzwald). Die Kirchen sind damit biblisch und buchstäblich ‚von Haus aus‘ Orte der mystischen Gottesschau. Im Lied zur Kreuzverehrung am Karfreitag wird das Kreuz selbst als wahre Himmelsleiter besungen und damit auch als das offene Tor zum Himmel und zur Gottesschau: „Du (Kreuz) bist die sichre Leiter, darauf man steigt zum Leben, das Gott will ewig geben“ (GL 294,4). Im Osterlied Freu dich, erlöste Christenheit singt die Gemeinde: „Die Seite, die geöffnet war,/ zeigt sich als Himmelspforte klar“ (GL 337,4).
Der Jesuit Richard Gutzwiller bezieht Joh 1,51 und Gen 28,17 mit der Herz-Jesu-Litanei (vgl. GL 564) ebenfalls auf das geöffnete Herz Jesu, aus dem „Blut“ (Eucharistie) und „Wasser“ (Taufe) hervorströmen und damit die Kirche geboren wird: „So ist das Wort vom Haus Gottes und von der Pforte des Himmels in tiefsinniger Weise hier erfüllt“ (Vom biblischen Charakter der Herz-Jesu Litanei, in: Josef Stierli [Hg.], Cor Salvatoris, 1954, 221-247, 228).
„Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein“ (Karl Rahner)
Für die Jesuiten galt der Grundsatz: contemplatio in actione – kontemplativ in allem Tun. Der Jesuit Karl Rahner (gest. 1984) hat nach dem Konzil 1966 den seitdem viel zitierten Satz formuliert: „Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein…“ Rahner hat erkannt: „Es bedarf einer Mystagogie in die religiöse Erfahrung, von der ja viele meinen, sie könnten sie nicht in sich entdecken, einer Mystagogie, die so vermittelt werden muss, dass einer sein eigener Mystagoge werden kann“ (Frömmigkeit früher und heute, GuL 5/1966, in: SW 23, 31-46, 39).
Wenn diese Transzendenzerfahrung eine „aus der Mitte der Existenz“ kommende Erfahrung ist, dann – so Rahner 14 Jahre später (1980) – ist dieser „Satz sehr richtig und wird in seiner Wahrheit und seinem Gewicht in der Spiritualität der Zukunft deutlicher werden“ (In Sorge um die Kirche, in: Schriften zur Theologie, Bd. 14, 375f). Und anderswo: „Die Mystiker sind nicht eine Stufe höher als die Glaubenden, sondern Mystik in ihrem eigentlichen, theologischen Kern ist inneres, wesentliches Moment des Glaubens“ (ebd.; vgl. Josef Sudbrack, in: Wolfgang Böhme u. a. [Hg.], Der Christ von morgen – ein Mystiker?, 1989, 99-136, 99).
Das Sakrament des Glaubens ist die Taufe, und sie macht aus „Kindern des Zorns“ (des Gerichts Gottes) wieder „Kinder des Lichts“ (Eph 5,8) oder nach dem 1. Thessalonicherbrief (5,5-7) „Söhne des Lichts und Söhne des Tages. Wir gehören nicht der Nacht und nicht der Finsternis. Darum wollen wir nicht schlafen wie die anderen, sondern wach und nüchtern sein. Denn wer schläft, schläft bei Nacht, und wer sich betrinkt, betrinkt sich bei Nacht.“ Das Weinwunder Jesu auf der Hochzeit zu Kana scheint nun gerade die Betrunkenheit zu fördern; verwandelt doch Jesus nicht weniger als das Wasser in allen sechs Krügen, von denen jeder ca. 100 Liter fasst.
Aber es geht nur scheinbar um trunken machenden Wein und Weinrausch, in Wahrheit geht es um eine „nüchterne Trunkenheit“ (sobria ebrietas), ein Begriff, den Philo von Alexandrien geprägt hat (vgl. Thomas M. Kiesebrink, Jesus als Mystiker?, 2022, 165). Gemeint ist eine „Gott-Trunkenheit“, eine Gottesbegeisterung und Gottinnigkeit, ein Von-Gott-Erfüllt-Sein, griech. enthousiasmos, die das Gegenteil der eingangs genannten acedia ist: des freudlosen und lustlosen Überdrusses am geistlichen Leben, der besonders von den Mönchen gefürchtet wurde.
Das „Luxuswunder“
zu Kana und die „nüchterne Trunkenheit“ des
Glaubens
Evangelische Theologen begegneten im 19. und noch im 20. Jh. dem Weinwunder Jesu mit Skepsis und Kritik. David Friedrich Strauß (gest. 1874) aus Ludwigsburg etwa kritisiert das Weinwunder, weil damit nicht wie sonst „irgend einer Noth, einem wirklichen Bedürfniß“, abgeholfen werde, vielmehr die Tat „nur einen weiteren Reiz der Lust herbeischaffte“: Jesus habe „mehr nur so zu sagen ein Luxuswunder, als ein wirklich wohlthätiges“ gewirkt (zit. nach Ansgar Wucherpfennig, Die Hochzeit zu Kana. Erzählperspektive und symbolische Deutung, in: ThPh 3/2004, 321-338, 325).
Ähnlich kritisch äußerte sich auch Heidelberger Neutestamentler Martin Dibelius (gest. 1947); für ihn war die Weinspende in „sinnlos überfließender Menge“ von 500 bis 700 Litern „nicht mit dem Charakter der übrigen Wunder vereinbar, mit denen Jesus sich als Retter in der Not zeigt. Dibelius hielt deswegen Jesu Hilfe in Kana für ‚keineswegs notwendig‘ und meinte, dass sie ‚vielleicht sogar bedenklich ist, jedenfalls mit evangelischem Ethos nichts zu tun hat‘“ (ebd.).
Gegenüber dem protestantischen-puritanischen Verständnis des Glaubens war das katholische immer sinnenfreudig und leibbetont. Das Geschenk des Glaubens, der nur empfangen werden kann, aber auch die entsprechende Mitwirkung mit der Gnade erfordert, ist zweifellos ein „Luxus“; aber es ist ein not-wendiger Luxus, weil er das irdische Leben bereichert und beglückt mit dem eigentlich von Gott zugedachten himmlischen Leben. Paulus sagt von Jesus: „Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen“ (2 Kor 8,9).
In Platons Symposion ist Eros der Sohn des Poros (Reichtum, Überfluss) und der Penia (Armut, Bedürftigkeit). Auch der himmlische Vater Jesu ist der ‚ewigreiche‘ Gott und Jesu Mutter Maria ist ein Geschöpf Gottes, das sich zu seiner Demut und „Niedrigkeit“ (humilitas, vgl. Humus, Erde) offen bekennt (Lk 1,48). Aber im Glauben erfährt Maria die „Größe des Herrn“ (V.46), der sie selbst groß macht, indem er sie „mit allem Segen seines Geistes“ (Eph 1,3) segnet und mit dem beschenkt, in dem „alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen“ sind (Kol 2,4). So wird sie mit der königlichen Würde der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit zum Himmel erhöht zum „Sitz der Weisheit“, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt: „Wer (im Glauben über die Welt) siegt, der darf mit mir auf meinem Thron sitzen, so wie auch ich gesiegt habe und mich mit meinem Vater auf seinen Thron gesetzt habe“ (Offb 3,21).
Zum Apsismosaik der „Krönung Marien“ in der Basilika Maria Maggiore in Rom, wo Maria mit ihrem Sohn auf dem gleichen Thron im Sternenhimmel sitzt, schreibt Erwin Gatz: „Während Maria ihre Hände erwartungsvoll öffnet, setzt Christus ihr die Krone des Lebens aufs Haupt. Das Buch in seiner Linken sagt dazu: ‚Veni Electa mea et ponam in te thronum meum‘, d. h. ‚komm, meine Auserwählte, und ich werde in dir meinen Thron aufschlagen‘. Das Mosaik stellt also mehr als nur die Krönung dar. Es geht hier vielmehr um die mystische Vereinigung von Christus und seiner Mutter“ (Roma Christiana. Ein kunst- und kulturgeschichtlicher Fuhrer über den Vatikan und die Stadt Rom, 1998, 214f). Noch innerhalb des Sternenhimmels unter den Füßen von Christus auf der rechten und Maria auf der linken Seite sind eine kleine goldenen Sonne und ein silberner Mond dargestellt oder ‚Sonnenauge‘ (Vernunft) und ‚Mondauge‘ (Sinnlichkeit). Deren Verbindung bildet im Chinesischen das Zeichen ‚Ming‘ für ‚Erleuchtung‘.
Die jungfräuliche Geburt in der Höhle und die Erinnerung der Urbilder
In der Krippe, dem Futtertrog der Tiere, liegt Jesus – wie es im Weihnachtslied heißt – „elend, nackt und bloß“ (GL 247,2). Die orthodoxen Weihnachtsikonen stellen die Jungfrauengeburt Marias in einer Höhle dar; wie Maria Urbild der Kirche ist, so ist ihre jungfräuliche Geburt auch Urbild der Wiedergeburt der Taufe auf Christi Tod und Auferstehung. Der Weg des Kreuzes ist dabei zu verstehen als Weg der Initiation. Nach der Benediktinerin Photina Rech bedeutet die christliche Initiation in Taufe, Firmung und Eucharistie ein inire, ein
„‘in die Erde hineingehen‘…, in das Erdinnere als den kultischen Raum der Todes- und Lebensweihe, in die Höhle des Mysteriums als den Uterus der großen Erdmutter. Die Wirrnis des Labyrinths, der Unterweltsdrache, dämonische Ungeheuer, die Schrecken von Tod und Hölle – all dies sind nur Namen für die Unheilssymbolik, die sich verdichtet im Schoß der unheimlichen Tiefe. An diese dunkle Gefahr muss der Einzuweihende sich ausliefern, ja von ihr verschlungen werden wie von den chthonischen Ungeheuern alter Verschlingungsmythen, weil nur so der Verschlungene wieder ‚ausgewürgt‘ wird als ein Auferstehender, ein Neugeborener aus dem Grabesschoß“ (Inbild des Kosmos I, 1963, 348).
Das Motiv der Höhle der orthodoxen Weihnachtsbilder versinnbildet damit zugleich den Zugang zum inneren Erinnerungs- und Bilderschatz der Menschheit, zu ihrem Tiefengedächtnis mit den archetypischen Urbildern. Vielen christlichen Heiligen diente die Heilige Höhle als Geburts-Schoß ihres geistlichen Lebens; Gertrude und Thomas Sartory betonen: „Alle Heiligen fangen irgendwie in der Höhle an“ – wo die Erneuerung der Welt anfängt, die Verwandlung der Erde zum Paradies (Wenn Himmel und Erde sich begegnen. Feste und Zeiten im Jahreskreis, 1979, 33-48: Geburt in der Höhle, 44f).
Ida Friederike Görres (1901–1971) hat zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) beobachtet, dass der weißen Christenheit heute der Zugang zum Tiefengedächtnis abhandengekommen ist. Das „allertreffendste Gleichnis“ dafür sei die Krankheitserscheinung der Aphasie, in der das Gedächtnis nicht mehr richtig durchblutet wird: „Bei gewissen Störungen der Hirnrinde kommt zwar der Seh-Eindruck zustande – das Auge bleibt ja unversehrt –, aber das Geschaute ist abgeschnitten vom Erinnerungsschatz und ‚bedeutet‘ nichts mehr“ (Der karierte Christ, 1964, 136-143: Die Sinne und der Heilige Geist, 140).
Den verlorenen Erinnerungsschatz neu zu entdecken, ist essentiell für die Zukunft des Christentums. Dazu braucht es die Heilung des inneren Auges, das schon im Sündenfall ‚verletzt‘ wird und ‚erblindet‘, durch den Glauben, der wieder gelernt hat, im Sichtbaren in mystischer Weise das Verborgene zu sehen: in der Schöpfung den Schöpfer, im Körper die Geistseele, im Buchstaben den Geist, in der Braut-Kirche den Bräutigam Christus.
Die Taufe: Angleichung an Christus und „Erleuchtung“
Der Heilige Geist nimmt die Gläubigen hinein in das bräutliche Verhältnis des Erlösers zu Maria – und dann auch zur Kirche, für die er sich am Kreuz aus Liebe hingibt (Eph 5,25). In seinem Licht liest die Kirche das vom Geist inspirierte Alte Testament als Vorausdarstellung des Neuen Testaments, und zwar vom ersten Adam bis zum ‚letzten‘ Menschen, dem Gottesknecht, von dem es heißt: „Er hatte keine schöne und edle Gestalt, so dass wir ihn anschauen mochten“ (Jes 53,2). Aber auch Psalm 45, das Lied von der Hochzeit des Königs, handelt verborgen von Jesus als Messias-König: „Du bist der Schönste von allen Menschen. Anmut ist ausgegossen über deine Lippen“ (Ps 45,3). Die Schönheit des am Kreuz „erhöhten“ oder „inthronisierten“ Königs zeigt sich nur den Augen des Glaubens; Jesus selbst sagt: „Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen“ (Joh 12,32).
Diese Ähnlichkeit mit dem Erhöhten vermittelt die Taufe als Sakrament des Glaubens; sie wird in der alten Kirche auch „Erleuchtung“ (photismos) genannt. Denn der Logos, der in Jesus Christus das „Fleisch“ der Menschheit annimmt, ist das ewige Wort Gottes und so „das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1,9), und zwar im Licht des Glaubens an den Namen Jesu aufgrund der (Neu-)Geburt aus Gott, das heißt: nicht „aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes“ (Joh 1,12f). Die Wiedergeburt oder die Neuschöpfung in der Taufe setzt dabei den ‚Tod‘ des ‚alten Menschen‘ (ersten Adam) voraus.
Paulus erklärt in 2 Kor 4,2-6: Wir „verfälschen das Wort Gottes nicht, sondern lehren offen die Wahrheit. So empfehlen wir uns vor dem Angesicht Gottes jedem menschlichen Gewissen. Wenn unser Evangelium dennoch verhüllt ist, ist es nur denen verhüllt, die verlorengehen… So strahlt ihnen der Glanz der Heilsbotschaft nicht auf, der Botschaft von der Herrlichkeit Christi, der Gottes Ebenbild ist. Wir verkünden nämlich nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn, uns aber als eure Knechte um Jesu willen. Denn Gott, der [am Anfang] sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi“).
Die „Entschleierung“ (Offenbarung) der Kirche-Braut in der Apokalypse
Gott hat „seine Liebe ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5,5). Durch diese Gabe des Geistes ist das Herz ‚beschnitten‘ (Röm 2,29) und so befähigt, das Wort Gottes in seiner von Gott gemeinten Wahrheit zu verstehen. Die Taufe geht in der alten Kirche deshalb einher mit der Taufkatechese, die das noch verhüllte Wort Gottes durch die Erleuchtung durch den Geist ‚enthüllt‘ und ‚entschleiert‘ (revelatio; apokalypsis). Der zum katholischen Glauben konvertierte US-Theologe Scott Hahn schreibt: Das Neue Testament hat „das Alte erfüllt, und indem es das tat, hob es den Schleier vom Antlitz der Braut“ (Aus dem Herzen der Kirche. Die Bibel richtig lesen, 2007, 11).
In seinem Buch Das Mahl des Lammes (2003) führt Hahn mit Blick auf die Johannes-Apokalypse aus: „Die apokalypsis war das Lüften des Schleiers der jungfraulichen Braut unmittelbar vor dem Vollzug der Ehe in der geschlechtlichen Vereinigung. Genau darum geht es Johannes. So eng ist die Vereinigung von Himmel und Erde, dass man sie mit der ekstatischen und fruchtbaren Vereinigung von Mann und Frau in der Liebe vergleichen kann. Der hl. Paulus beschreibt die Kirche als die Braut Christi (siehe Eph 5) – und die Offenbarung enthüllt diese Braut. In der Vereinigung der Kirche mit Christus erreicht die Offenbarung ihren Hohepunkt: im Hochzeitsmahl des Lammes (Offb 19,9). Die Apokalypse weist zurück auf das Kreuz. Als Jesus starb, so berichtet Matthäus, ‚da riss der Vorhang (der Schleier) im Tempel von oben bis unten entzwei‘ (Mt 27,51). Das Heiligtum Gottes wurde damit ‚apokalypsiert‘, enthüllt: sein Wohnsitz war nicht mehr für den Hohenpriester allein reserviert. Die Erlösungstat Jesu enthüllte das Allerheiligste und öffnete die Gegenwart Gottes für alle. Himmel und Erde konnten sich nun in inniger Liebe vereinen“ (123f).
Die Vereinigung und Vermählung von Himmel und Erde geschieht schon mit der Fleischwerdung des ewigen Wortes. Nach dem Jesuiten Louis Lallemant (1578–1635) ist das alttestamentliche Hohelied der Liebe das „Hochzeitslied der heiligen Vermählung“ in vier Sinndimensionen nach dem vierfachen Schriftsinn: der Einswerdung des Sohnes Gottes mit der menschlichen Natur (Literalsinn), mit Maria (typologischer Sinn), mit der Kirche (moralischer Sinn) und mit jeder gläubigen Seele (anagogischer Sinn). „Das Hochzeitslied der heiligen Vermählung Marias mit dem Hl. Geist und der Menschenwerdung des WORTES, das ihre Frucht sein sollte, ist das Hohelied, wo die Braut – sogar in wörtlichem Sinn – in erster Linie die heilige Menschheit des Herrn, in zweiter Linie die Muttergottes, in dritter Linie die heilige Kirche, in vierter Linie jede heilige Einzelseele ist, sowohl jene, die stets ihre Jungfräulichkeit bewahrt hat, als jene, die sie verloren hat, aber sich im heiligen Bade der Buße wieder gewaschen hat und dann zum größten Grad der Keuschheit gelangt ist. Wir sollten ohne Unterlass das Fest der göttlichen Hochzeit unserer Seele mit Jesus Christus feiern…“ (Die geistliche Lehre, 1948, 106).
Klaus W. Hälbig
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