Die Psalmen als messianische Prophetie

Bild: Zweimal ist auf dieser Miniatur (um 830) König David dargestellt: Als Hirt mit der Herde und als König (auf dem Berg) mit Orgel und Psalterium. „Er hat sein Handeln in den Dienst Gottes gestellt durch sein priesterliches Wirken, auf welches er durch Psalter und Orgel im Bildzentrum hinweist“ (Mechthild Clauss, Illustration als Textauslegung. Der karolingische Stuttgarter Bilderpsalter um 830, St. Ottilien 2018).

„Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht“ (Lk 24,44). Auf der Grundlage dieser Aussage des Auferstandenen an seine Jünger legte die frühe Kirche den Psalter als Prophetie auf Christus hin aus. Wie dies noch im 9. Jh. durch Miniaturen geschah, zeigt ein neues Buch zum frühkarolingischen Psalter von Mechthild Clauss, die schon 2005 eine Auslegung der Engelfresken der Krypta von Marienberg (13. Jh.) vorgelegt hat.

Clauss (Jg. 1927) hat viele Jahre in deutschen und ausländischen Gymnasien unterrichtet und 16 Jahre in Kamerun und im Tschad in der Mission und kirchlichen Entwicklungshilfe gearbeitet. Studiert hat sie Germanistik, Romanistik, Anglistik und Kunstgeschichte, aber nicht Theologie. Das ist aber eher von Vorteil, weil der Blick nicht durch theologische Voreingenommenheiten getrübt ist. Aus ihrer reichen Kenntnis der Bildersprache und Symbolik der Tiere und Pflanzen, der Farben und Zahlen entfaltet die Autorin eine faszinierende Deutung der in dem Buch „Illustration als Auslegung“ versammelten 48 Miniaturen aus dem karolingischen Stuttgarter Bilderpsalter (um 830), die sich ihrerseits als Deutung des prophetischen Potentials des Psalters im christlichen Sinn verstehen.

 

Psalm 151: Davids Kampf gegen Goliath als Sinnbild des Bösen

Den Höhepunkt am Ende bildet der 151. Psalm, der in den meisten griechischen Übersetzungen des Psalters vorhanden ist, nicht aber im hebräischen Text (wobei es aber eine hebräischen Fassung in der großen Psalmenrolle von Qumran gibt). Dieser 151. Psalm mit sieben Versen hat den Sieg des Psalmensängers und „Vorläufers“ beziehungsweise Vorausbildes des Messias, König David, über den Riesen „Goliath“ zum Thema, der in der Bibel Sinnbild und Inbegriff des Bösen oder auch des Teufels ist. Auch Wolfgang Augustyn (Nicht nur Michelangelo. David in der Kunst, in: zur debatte, 1/2020, 9-11) erinnert an die allegorische Auslegung der Kirchenväter, wonach Davids Sieg über Goliath, der in vielen Psalterhandschriften im (apokryphen) Psalm 151 besungen wird, „Sinnbild für den Sieg über Satan“ ist (10).

David wird „als einer der Propheten wiedergegeben, nicht zuletzt bei Darstellungen des Weltgerichts“ (11).Was aus jüdischer Sicht hinter dem ungleichen Kampf Davids gegen Goliath steckt, beschreibt Friedrich Weinreb vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung des Menschen mit der Paradiesschlange (Das Opfer in der Bibel, 145f): „Ein Riese ist einer, der in dieser Welt der Materie, des Sichtbaren, eine gewaltige Entwicklung zeigt. (…) Ein Riese ist auch die Wissenschaft, das große Wissen von dieser Welt. Die Riesen werden auch ‚nefilim‘, 50-80-10-30-10-40, genannt, ein Wort, das von ‚nofal‘, 50-80-30, fallen, kommt. Es sind also Menschen, die von Oben nach Unten gefallen, dann aber doch Riesen geworden sind. Dieser Goliath ist also eine bedeutsame Gegenkraft bei der Entscheidung am Ende.“

Nofal, fallen, entspricht in der Struktur 5-8-3 der Schlange, nachasch, 50-8-300. Goliath ist ein Sohn der Orpa, die in Moab, 40-6-1-2 = 49 (= 7 x 7), einen Sohn der Naomi heiratet, während ihr anderer Sohn sich mit Ruth vermählt, der Ahnfrau König Davids (vgl. Rut 1,4; 4,21), der den Messias präfiguriert. „Der Name Orpa, 70-200-80(-5), zeigt in seiner Struktur ebenfalls die Dreihundertfünfzig, den Begriff der Dreieinhalb... Orpa hat also das, was die Materie auch hat, ‚aphar‘, 70-80-200 [= 350], Staub. Die beiden begegnen einander also wieder: Orpa in Gestalt Goliaths und den Philistern und Ruth in Gestalt Davids von Israel“ (ebd. 145).

Der Kampf Davids gegen Goliath (1 Sam 17,1-58) ist also nicht einfach der Kampf des Schwachen gegen den Starken, sondern es geht um den Kampf zwischen Geist und Materie. Am Ende besiegt der junge, „blonde“ Hirtenknabe David mit den „schönen Augen“ und der „schönen Gestalt“, der jüngste und ‚achte‘ Sohn Isais (1 Sam 16,9-13), den starken Philister bloß mit seiner Schleuder und einem von insgesamt fünf Steinen, mit dem er ihn an der Stirn trifft (1 Sam 16,12; 17,40.49f). Für Cäsarius, Erzbischof von Arles (gest. 542), symbolisiert der eine Stein Christus selbst: „Der wahre David, Christus, trifft den geistigen Goliath, den Teufel, gerade auf der Stirn, die das Zeichen des Kreuzes nicht trägt, mit dem Stein, der IHN selber vorgebildet hatte“ (zit. S. 33). Vorgebildet meint hier, „er verkörpert allegorisch die Kraft des Heiligen Geistes, welche die Menschwerdung des Gottessohnes bewirkte“ (ebd.).

 

David siegt als „Typos Christi“ mit seiner geistigen Überlegenheit

Alttestamentlich symbolisiert der eine Stein gegenüber den vier Steinen das 1–4-Prinzip des Bundes, so wie beim Brotwunder des Propheten Elischa 20 Gerstenbrote für 100 Männer reichen (2 Kön 4,42-44). Das Verhältnis 1–4 (Geist – Materie oder Fleisch, Gott – Welt) verkörpern auch die beiden Paradiesbäume: der Baum des ewigen Lebens (Zahlenwert 233) und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse (Zahlenwert 932), denn 233 zu 932 ist 1 zu 4.

Im Stuttgarter Psalter besiegt David den Goliath allerdings nicht mit dem 5. Stein (als Quint-essenz), sondern mit dessen eigenem Schwert (vgl. die Darstellung S. 285). Mechthild Clauss bemerkt mit Bezug auf Ps 151,7 („Ich zog von der Seite ihm das Schwert, / Und hieb ihm das Haupt…“): „Der Miniator knüpft seine Darstellung von Davids Kampf mit Goliath an eine Bemerkung des Psalmisten (V.7), die schon im ersten Samuel-Buch auftaucht (17,51). David zieht nämlich mit beiden Händen das riesige Schwert des Goliath aus der Scheide, um – so heißt es in Bibel und Psalm – den Gegner mit dessen eigener Waffe zu töten“. „Das bedeutet: das Böse wird vernichtet durch das Böse, – durch sich selbst! David hat Goliath entmachtet, indem er ihm die Todeswaffe nahm. (…) Er kämpft nicht mit den gleichen Mitteln wie sein Gegner – nicht mit körperlicher, sondern mit geistiger Überlegenheit“ (S. 278).

Die Miniatur fol.164v (Abb. 47, S. 281) zeigt König David gleich zweimal: Sowohl als Hirt der Herde wie auch als König mit Orgel und Psalterium, worauf seine linke Hand weist, während die rechte auf den Altar mit aufgeschlagenem Psalter hindeutet: David „hat sein Handeln in den Dienst Gottes gestellt durch sein priesterliches Wirken, auf welches er durch Psalter und Orgel im Bildzentrum hinweist“ (S. 281). Ohne Krone und ohne Cithara wird er nicht als der damalige König Israels dargestellt, „sondern als Symbol für seine überpersönliche Aufgabe im Dienste Gottes – als ‚Typos’, das heißt als ‚Vorläufer’ Christi! Dass in dieser Miniatur nicht Christus selbst dargestellt ist, sondern an seiner Statt ein Erdenbürger, weist auf den Einbezug des Menschen ins Heilswerk Christi. Die Heilige Schrift sowie die Orgel mit Blasebalg lassen etwas ahnen vom Glauben des ‚Typos Christi’ an die kommende Erlösung durch das Kreuzesopfer des Gottessohnes“ (S. 281f).

 

Christi Sieg am „letzten Platz“ des Kreuzes über Tod und Teufel

Christus wird gleich am Anfang seines öffentlichen Wirkens mit dem Teufel konfrontiert, der sich zur „Versuchung“ der Heiligen Schrift (= Thora) bedient, ja geradezu als „Schriftgelehrter“ auftritt (Mt 4,1-11). Jesus hat mit seiner Fleischwerdung „Fleisch und Blut angenommen, um durch seinen Tod den zu entmachten, der die Gewalt über den Tod hat, nämlich den Teufel, und um die zu befreien, die durch Furcht vor dem Tod ihr Leben lang der Knechtschaft verfallen waren“ (Hebr 2,14f). Der „Gewaltige“ und „Starke“ wird aber nicht durch eine stärkere Gegen-Gewalt geschlagen und entmachtet – Jesus weist den zurecht, der bei seiner Gefangennahme dem Diener des Hohenpriesters mit seinem Schwert ein Ohr abschlägt (Mt 26,51): „Denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwer umkommen. Oder glaubst du nicht, mein Vater würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken, wenn ich ihn darum bitte? Wie würde dann aber die Schrift erfüllt, nach der es so geschehen muss?“ (Vv.52-54).

Die Schrift, das Alte Testament als Offenbarung und Ausdruck des Willens Gottes, weist einen anderen Weg, wie der Tod, die Furcht vor dem Tod und der daraus resultierende Kampf um die Macht und den „ersten Platz“, überwunden werden kann, nämlich indem Jesus am Kreuz den „letzten Platz“ einnimmt, gleichsam als „Looser“ (scheinbar) von Gott und den Menschen verlassen: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott, vom Volk verachtet. Alle, die mich sehen, verlachen mich, verziehen die Lippen, schütteln den Kopf: Er wälze die Last auf den Herrn, der soll ihn befreien“ (Ps 22,7-9).

Jesus betet am Kreuz diesen Psalm 22 (vgl. Mt 27,46; Ps 22,2) und identifiziert sich so mit dem Beter, der freiwillig das schlimmste Todesgeschick erleidet, aber gerade dadurch ganz im Dienst Gottes steht, der den Menschen von der todverfallenen Körperlichkeit und der „Schwäche“ des „Fleisches“ zur wahren „Stärke“ des „Geistes“ führen will: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“, sagt Jesus beim Gebet im Garten Getsemani (= „Ölpresse“), wo er „für uns“ voller „Angst“ darum ringt, den Willen Gottes zu erfüllen (Mt 26,37-46), wie er selbst im Vaterunser gelehrt hat: „Dein Wille geschehe“ (Mt 6,10). Der Schöpfer will den Menschen nicht als „äußeren Menschen“ oder als irdisches „Fleisch“ – „verdorben“ und „voller Gewalttat“ (Gen 6,11f) –, sondern als „Geist“ beziehungsweise als „inneren Menschen“ (2 Kor 4,16).

 

Das Fleisch führt zum Tod, der Geist führt zum Leben

Paulus schreibt den Getauften im Römerbrief (8,6-11): „Das Trachten des Fleisches führt zum Tod, das Trachten des Geistes aber zu Leben und Frieden. Denn das Trachten des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott; es unterwirft sich nicht dem Gesetz [= Willen] Gottes und kann es auch nicht. Wer vom Fleisch bestimmt ist, kann Gott nicht gefallen. Ihr aber seid nicht vom Fleisch, sondern vom Geist bestimmt, da ja der Geist Gottes in euch wohnt. Wer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm. Wenn Christus in euch ist, dann ist zwar der Leib tot aufgrund der Sünde, der Geist aber ist Leben aufgrund der Gerechtigkeit. Wenn der Geist dessen in euch wohnt, der Jesus von den Toten auferweckt hat, dann wird er, der Christus Jesus von den Toten auferweckt hat, auch euren sterblichen Leib lebendig machen, durch seinen Geist, der in euch wohnt.“

Der Gegensatz von Geist und Fleisch, geistigem Leben nach dem Willen Gottes und Tod des Fleisches im Widerspruch zum Willen Gottes, durchzieht die Bibel von Anfang an. Die biblischen Autoren beziehungsweise die Urväter Israels waren dabei vom Geist Gottes erfüllt, „der einst zu den Vätern gesprochen hat durch die Propheten“ (Hebr 1,1; Credo). Das gilt auch für David und den ganzen Psalter, der als „Prophetie“ auf Christus und die Kirche hin gelesen wurde, aber auch als Gebet Christi und als Gebet der Kirche zu Christus.

Augustinus gelangte, wie er in seinen „Confessiones“ bekennt, durch das gesungene Psalmengebet zur Bekehrung nicht nur des Verstandes und Willens, sondern auch des Gefühls beziehungsweise der Affekte: „Gesungen führt der Psalter zur gesuchten Seelenharmonie“ (Michael Schneider, Theologie des christlichen Gebets, 356f). Schon bei Pythagoras wird Musik als Therapie der Seele eingesetzt; bei Platon vollzieht sich die Erschaffung der Seele entsprechend „streng nach zahlensymbolischen Verhältnissen“ (358, Anm. 646). Die Zahl der Seele und des Himmels ist die Drei, die Zahl des Körpers und der Erde die Vier; ihre Verbindung ergibt die Zahl Sieben, in der die Schöpfung erschaffen ist.

 

Auferstehung und Beschneidung am eschatologischen „achten Tag“

Aber diese Verbindung von Seele und Körper ist noch unvollkommen, der Tod kann beide ‚Prinzipien’ des Seins wieder trennen. Erst in der Acht (= 2³) als Zahl der Auferstehung und der Neuschöpfung (vgl. die acht Personen in der Arche mit Noah als dem „Achten“: Gen 7,7; 1 Petr 3,20; 2 Petr 2,5) ist die unendliche Einheit der endlichen Zweiheit vollkommen. Deshalb muss die Beschneidung des „männlichen“ Kindes als Zeichen des Bundes (1–4) am „achten Tag“ stattfinden (Gen 21,4), wie auch die der Sintflut und der Beschneidung nachgebildete Taufe in achteckigen Becken und Baptisterien gespendet wurde; „musste“ doch Jesus am „achten Tag“ (= Sonn-tag nach dem Sabbat/Samstag) von den Toten auferstehen, das heißt am „dritten Tag“ (nach dem „sechsten Tag“ = Freitag) „gemäß der Schrift“ (1 Kor 15,4).

Der Rettung der Acht durch die Arche „entspricht die Taufe, die jetzt euch rettet. Sie dient nicht dazu, den Körper von Schmutz zu reinigen, sondern sie ist eine Bitte an Gott um ein reines Gewissen aufgrund der Auferstehung Jesu Christi, der in den Himmel gegangen ist; dort ist er zur Rechten Gottes, und Engel, Gewalten und Mächte sind ihm unterworfen“ (1 Petr 3,21f). Die Taufe ist Reinigung des Gewissens und Erleuchtung des Herzens, damit der Mensch wieder Gott sehen kann (Mt 5,8; Eph 3,17; 5,8).

Dem Auferstandenen ist wieder „alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde“ (Mt 28,18). Weil aber Gott mit dem Menschen in Liebe eins sein will, will er auch seine Freiheit und nicht ihn durch Gewalt zum Tun seines Willens zwingen. Der Mensch kann sich dem Liebeswerben Gottes verschließen und lieber auf die „Schlange“ (Triebnatur) „hören“, statt „gehorsam“ dem „Wort Gottes“ zu sein. Im Hören auf die Schlange wird der ursprünglich gottähnliche Mensch selbst tierähnlich; im rechten (geisterfüllten) Hören auf Gottes Wort des ewigen Lebens, wie es in der Heiligen Schrift und im Wort Jesu begegnet (Mt 4,4; Joh 6,68) erlangt der Mensch wieder seine gottähnliche „Heiligkeit und Gerechtigkeit“ (Eph 4,24), wird er „aus unvergänglichem Samen“ neu und wiedergeboren (1 Petr 1,23).

 

Psalm 96,10: „Vom Kreuz herab herrscht unser Gott“

Mechthild Clauss sieht in David den „Typos Christi“, und zwar auch „dargestellt in Kreuzesgestalt“ (S. 284; s. o. Bild): Seine Arme sind nicht zum Orantegestus erhaben, aber doch ausgestreckt zum Altar und zur Orgel. Das Kreuz wiederum ist für die inneren Augen des Glaubens der wahre Königsthron und der wahre Priesteraltar: „Statt zum Altare eines Tempels wurde das Kreuz Christi zum Altare der ganzen Welt“ (Papst Leo der Große, zit. ebd.). Das vorletzte Bild des Stuttgarter Bilderpsalters ist nicht nur eine Zusammenfassung des Ganzen, „sondern es führt vom Alten Bund in den Neuen hinein, indem es ein neues Gottesverhältnis begründet“ (ebd.).

Dieses neue Gottesverhältnis besteht darin, dass nun nicht mehr nur einzelnen der Geist Gottes gegeben ist, die dann als Urväter, Könige und Propheten wirken, sondern dass der Auferstandene und zum Himmel Aufgefahrene den Geist in Fülle über das ganze neue Gottesvolk ausgegossen hat (Joel 3,1-5; Apg 2,17-21). Der Jubelruf „Der Herr ist König geworden“ (Ps 96,10) gilt dem Gekreuzigten, weshalb in einigen griechischen Handschriften und in der alten lateinischen Übersetzung Vers 10 ergänzt wird: „vom Holz, vom Kreuze her“ (vgl. S. 287, Anm. 310). Bischof Venantius Fortunatus (gest. nach 600) konnte deshalb in seinem Kreuz-Hymnus „Vexilla regis prodeunt“ sagen: „Erfüllt ist nun, was David einst im Liede gläubig kundgetan, da er im Geiste prophezeit: Vom Holz herab herrscht unser Gott“ (Gotteslob 299.3).

Jesus hat das „Reich Gottes“ oder die Gottesherrschaft verkündet, um dessen Kommen die Christenheit seitdem betet: Adveniat regnum tuum. Das „von Alters her in den Schriften“ verheißene eschatologische Reich Gottes als Vollendung des Menschen und der Welt ist zwar, so das Zweite Vatikanische Konzil, zukünftig und jenseitig; aber es wird schon „offenbar in der Person Christi selbst, des Sohnes Gottes und des Menschensohnes, der gekommen ist, ‚um zu dienen und sein Leben [am Kreuz] als Lösegeld hinzugeben für die Vielen’ (Mk 10,45; Lumen gentium 5). Es „leuchtet im Wort, im Werk und in der Gegenwart Christi den Menschen auf. Denn das Wort des Herrn ist gleich einem Samen, der auf dem Acker gesät wird (Mk 4,14): die es im Glauben hören und der kleinen Herde Christi (Lk 12,32) beigezählt werden, haben das Reich selbst angenommen; aus eigener Kraft sprosst dann der Same und wächst bis zur Zeit der Ernte“ (LG 5).


Das Kommen des Reiches im sprossenden Samen des Wortes Gottes

Im Johannesevangelium wird Jesu Tod am Kreuz mit dem Sterben des Weizenkorns verglichen, das nur durch das Erleiden des Todes vielfache Frucht bringen kann: „Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben“ (Joh 12,24f). Die erzählten Reich-Gottes-Gleichnisse von der selbstwachsenden Saat, vom kleines Senfkorn oder vom gesäten Wort Gottes werden werden im Leben Jesu zu „gelebten Gleichnisses“ und zur christologischen Allegorie, wie die französische Mystikerin Simone Weil sagt:

„Wir wissen wohl, wem dieser Baum gleicht, der in uns aufgewachsen ist, dieser herrliche Baum, auf den die Vögel des Himmels sich niederlassen. Wir wissen, welches der schönste von allen Bäumen ist. ‚Kein Wald bringt seinesgleichen hervor’ [Karfreitagshymnus]. Etwas, das noch grauenerregender ist als ein Galgen – siehe, das ist der schönste von allen Bäumen. Dies ist der Baum, dessen Same Gott in uns eingesenkt hat, ohne dass wir wussten, was das für ein Same sei. Hätten wir es gewusst, wir hätten nicht unverzüglich unser Ja gesprochen. Dies ist der Baum, der in uns gewachsen ist, dessen Wurzeln uns unausrottbar durchdringen. Nur ein Verrat allein kann ihn entwurzeln“ (Die Gottesliebe und das Unglück, zit. nach Erika Schweizer, Geistliche Geschwisterschaft. Nelly Sachs und Simone Weil – ein theologischer Diskurs, 189).

Jesu Kreuzweg ist leibhaftiges Gleichnis für den durchaus schmerzhaften Prozess des Aufnahme des göttlichen Samens und der Umwandlung des inneren Menschen, der in der Spur Christi dem göttlichen Licht folgt. Gottes natürliche Beziehung zur Welt als „Erstursache“ ist immer nur mittelbar durch die Geschöpfe als „Zweitursachen“, aber: „Die übernatürliche Beziehung Gottes zur Welt ist ein unendlich Kleines; und nur vermöge der menschlichen Seele findet dieses unendliche Kleine Eingang in die Welt. Ist dies geschehen, dann überlässt Gott die Seele sich selbst. In nicht handelndem Handeln wartet er abwesend – gleich dem Landmann – auf das Sprießen des Samens, der aufgeht und wächst, ‚er weiß nicht wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre’ [Mk 4,27f]. Am Ende des Prozesses entspricht das unendlich Kleine des Samens einem exponentiellen Anstieg der Weizenkörner in der hervorgebrachten Frucht“ (zit. ebd. 188).

 

Der Gekreuzigte als „der Schönste von allen Menschen“

Den guten Humus für das Wachstum des ausgesäten (geoffenbarten) Wortes Gottes haben die Propheten und heiligen Schriftsteller der Alten Testaments bereitet. So finden sich in der Schrift überall die „Keime“ des kommenden Neuen, wie Mechthild Clauss vielfach hervorhebt. Als besonders fruchtbares Feld erweist sich der Psalter, so wenn der Gerechte mit einem fruchtbringenden Baum verglichen wird (Ps 1), oder wenn im Lied zur Hochzeit des Königs dieser als „der Schönste von allen Menschen“ besungen wird (Ps 45,3), was die Kirchenväter vom Gekreuzigten verstanden haben. Nach dem russisch-orthodoxen Theologen Pavel A. Florenskij gründet die Schönheit des Menschen und all der anderen Geschöpfe in der Schönheit des Gekreuzigten:

„Die größtmögliche Schönheit des Menschen erblickt Florenskij im gekreuzigten Menschensohn: ‚Die Blüte der menschlichen Gestalt, das schönste, was es am Menschen gibt, ist, wenn er kreuzförmig ausgestreckt ist.’ Nach Florenskijs Auffassung reicht es nicht aus, das Kreuz nur als Zeichen der Schande und des Todes, als ‚Galgen‘ zu betrachten, sondern vor allem als Prägemal, mit dem die gesamte Schöpfung bezeichnet ist. Die Schönheit des Logos kulminiert nach Florenskij am Kreuz, weil Christus am Kreuz dem Vater sein Lebensopfer darbringt. Seinem Opferdienst entspringen die Sakramente. (…) Der ‚schöne‘ Mensch ist der Heilige“ (Johannes Schelhas, Schöpfung und Neuschöpfung, 304).

Augustinus hat den Vers des Königspsalms vom ‚Schönsten von allen Menschen’ zusammen mit dem Vers vom Gottesknecht als Schmerzensmann, der „keine schöne und edle Gestalt“ hatte (Jes 53,2f), in ihrer Gegensätzlichkeit auf den Gekreuzigten bezogen, der in den Augen des Glaubens zugleich der König und Bräutigam der Kirche und jedes einzelnen Christen ist: „Seht den Bräutigam selbst, wie er sich uns zeigt: lasst uns ihn lieben, oder besser: lasst uns ihn nicht lieben, wenn wir an ihm Hässliches finden. Wieviel Hässliches hat er in uns gefunden! Und dennoch hat er uns geliebt! Wenn wir Hässliches an ihm vorfinden, lasst uns ihm unsere Liebe verweigern. Aber selbst als er sich mit unserem Fleisch bekleidete und so weit ging, dass man von ihm sagte: ‚Wir haben ihn gesehen; er hatte keine schöne und edle Gestalt’ (Jes 53,2), selbst in dem Moment ist er schön, wenn du seine Barmherzigkeit anschaust, die ihn dazu brachte, Mensch zu werden. (…) Uns, die wir gläubig sind, muss der Bräutigam immer schön erscheinen. Schön aufgrund seiner Gottheit, als ‚Wort in Gott’; schön im Schoß der Jungfrau, in dem er, ohne seine Gottheit zu verlieren, eine Menschheit angenommen hat; schön als Wort, das als Kind zur Welt kommt … Er war also schön im Himmel und schön auf Erden; schön in seinen Wundertaten und schön unter den Geißelhieben; schön, als er die Menschen zum Leben einlud und den Tod verachtete; schön, als er seine Seele übergab; schön, als er sie wieder nahm; schön am Holze des Kreuzes; schön im Grab, schön im Himmel. Die Schwachheit des Fleisches soll eure Augen nicht vom Glanz seiner Schönheit ablenken. Die höchste und wahre Schönheit ist die Gerechtigkeit. (…) Ein vollkommen Gerechter ist auch vollkommen schön“ (zit. nach Christoph Schönborn, Der Mensch als Abbild Gottes, 30-32).

 

Das Schöne: Brücke zwischen dem Natürlichen und Übernatürlichen

Die so bejubelte und besungene Schönheit des königlichen Gekreuzigten, der alle Glaubenden, die ihm nachfolgen, wieder zu Heiligen und Gerechten, zu Priester und Königen macht (Offb 1,6), ist keine natürliche, denn: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36; vgl. Clauss, S. 283). Vielmehr ist diese Schönheit Teilhabe an der Schönheit Gottes und seines Geistes, der alles neu und schön macht, indem er die ‚Hässlichkeit’ des verderblichen Todes überwindet. „‚Für Kyrill von Alexandrien ist es das Spezifische des Pneumas, Geist der Schönheit zu sein und dem ganzen Kosmos Anteil an der Schönheit der göttlichen Natur zu geben.‘ Der Heilige Geist erneuert den Erdkreis mit göttlicher Schönheit (vgl. Weish 1,7)“ (Michael Schneider, Das Wirken des Heiligen Geistes und der Dienst des Priesters in der Byzantinischen Liturgie, in: George Augustin u.a. [Hg.],  Priester und Liturgie, 93-116, 112).

Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch bei Simone Weil. Für sie ist die Ästhetik keine philosophische Studienrichtung, sondern „der Schlüssel zu den übernatürlichen Wahrheiten“; denn das Schöne überbrückt die Kluft zwischen dem Natürlichen und der Übernatur (Otto Betz, Das Schöne als Spiegelung des Göttlichen in: Imelda Abbt/ Wolfgang Müller, Simone Weil, 217-233, 230). Es beflügelt den ganzen Menschen einschließlich seines natürlichen Teils, reinigt sein Begehren und gibt ihm die Energie zum Aufstieg hin zum einen Ursprung: „Daher ist das Schöne eine Maschine, um niedrige in höhere Energie umzuwandeln“ („Nichts übertrifft Platon“).

Der ‚beflügelte’ Mensch gleicht nicht mehr den Tieren, sondern wieder den heiligen Engeln, die im Dienst Gottes leicht sind und die Erdenschwere überwinden. Im Stuttgarter Bilderpsalter erscheint als Illustration von Psalm 136 die mythologische Gestalt der Erde (Terra, Tellus) mit leuchtendem Nimbus als weibliche Halbfigur auf tief violettem Hintergrund, der die Geistwelt symbolisiert. In ihrer Linken hält sie einen Zweig vom Feigenbaum, in ihrer Rechten ein Bündel Ähren. Aus ihrem Mund erwachsen zwei Rebzweige mit Blattwerk, an denen drei Dolden hängen. Im oberen Feld links von der Erde ist Luna in Gestalt einer weißen (silbernen) Frau dargestellt, rechts von ihr Helios in Gestalt eines Mannes, umgeben von einem roten Strahlenkranz Der Miniator hat hier „den Kosmos zu einer reinen Geistwelt überhöht“ (S. 259) – ganz im Sinn des (pfingstlichen) Psalms 104,30: „Sendest du deinen Geist aus, so werden sie alle erschaffen, und du erneuerst das Antlitz der Erde.“

 

Natürliche und übernatürliche Furchtbarkeit

In der Illustration sind „Innen und Außen, Oben und Unten … durch die Personifikation der Fruchtbarkeit verbunden“ (S. 260). Die Erdgöttin bringt nicht nur natürliche Früchte hervor, sondern in Verbindung mit dem Himmel auch übernatürliche, wie es beim Propheten Jesaja heißt: „Taut, ihr Himmel, von oben, ihr Wolken, lasst Gerechtigkeit regnen! Die Erde tue sich auf und bringe das Heil hervor; sie lasse Gerechtigkeit sprießen. Ich, der Herr, will es vollbringen“ (Jes 45,1.8). Clauss: „Irdisches Naturereignis und geistig-geistliches Geschehen gehen ineinander über: das erstere wird zum Vorausbild, zur Präfiguration, für das letztere“ (S. 261).

Mit der Fleischwerdung des Schöpferwortes hat sich die im Sündenfall mit in den „Fluch“ gerissene Erde (Gen 3,17) „’aufgetan’ und hat Christus, den Heiland, hervorgebracht. Der Miniator malt, was das alte Adventslied besingt: ‚O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd, dass Berg und Tal, grün alles wird! O Erd, herfür dies Blümlein bring, o Heiland, aus der Erden spring!“ (zit. ebd.; vgl. Gotteslob 231.3, Text: Friedrich von Spee SJ). Clauss kommentiert: „Wir erkennen jetzt, das die Personifikation der Terra auf Christus weist, der aus der Erde den Menschenleib nahm. Durch eine Allegorie deutet der Miniator auf das Mysterium der Inkarnation des Gottes“ (S. 262).

Im Zweig vom Feigenbaum sieht die Autorin einen Hinweis auf den Sündenfall, denn wegen der „Feigenblätter“ (Gen 3,7) gilt der Erkenntnisbaum als Feigenbaum, wo sich „die Verführung des Menschen durch die Schlange, Symbol des Bösen“, ereignet (ebd.). Die Ähren vereint mit den Trauben aus dem Mund verweisen dagegen auf den (eucharistischen) „Leib und Blut Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen, die dem erlösungsbedürftigen Menschen Teilhabe am Erlöser schenken. Durch des Gottmenschen Opfertod am Kreuz ist die Erde mit seinem Blut getränkt: sie ist ‚neu’ geworden! (…) Deshalb leuchtet der Nimbus so hell, dass er die ganze Geistwelt durchstrahlt. Christus, der Gekreuzigte, ist der neue Lebensbaum, der Himmel und Erde verbindet!“ (ebd.).

 

Landverheißung und Erbschaft der Welt im geistigen Sinn

Clauss unterstreicht mehrfach die große Kunst des Miniators, in einem einzigen Bild die ganze Heilsgeschichte zusammenzufassen und zu entfalten. Das Bild der fruchtbaren Erdmutter ist Bild für die Menschwerdung Christi, für die Erlösung am Kreuz und für das Neuwerden der Erde, die mit den göttlichen Himmelskräften wieder (im Bund) verbunden ist. „Das rein geistige Geschehen der Erlösung wird für ihn darstellbar durch eine Naturgottheit der antiken Mythologie, die sich mit dem Sündenfall-Mythos des alten Israel verbindet, um in der christlichen Symbolik von Brot und Wein auf die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen zu antworten durch Gegenwart und Wirksamkeit des auferstandenen Erlösers“ (S. 263).

Der zweite Teil des 136. Psalms, zu dem es keine Illustration gibt, greift das zentrale Thema der „Landverheißung“ auf. In den acht Seligpreisungen der Bergpredigt Jesu wird das „Land“ denen als „Erbe“ verheißen, „die keine Gewalt anwenden“ (Mt 5,5). „Das Wort ‚erben’ zeigt eine neue Bedeutung, denn das Erbe des von Christus verheißenen Landes ist an keinen Rechtsanspruch gebunden, sondern es ist freie Gabe – Frucht des freiwilligen Opfertodes, den der menschgewordene Gottessohn auf sich nimmt, um dem gefallenen Menschen das verscherzte himmlische Erbe zurückzugewinnen“ (S. 265). „Christus als Gottes Sohn ist Schöpfer und Erbe des Alls“ (Hebr 1,2; S. 267). Nach Röm 4,13 wurde Abraham und seinen Nachkommen verheißen, „Erben der Welt zu sein“. Paulus zeigt aber, dass das nicht von den „Kindern des Fleisches“ gilt, sondern von den „Kindern Gottes“, die die wahren „Erben“ des „Reiches Gottes“ sind (Röm 9,8; 1 Kor 15,50).

Die Gewaltlosigkeit und „Sanftmut“ (vgl. Mt 11,29; 21,4f) steht nicht im Gegensatz zum „Zerschmettern“ der Kinder der „Tochter Babels“ am „Felsen“ (Ps 137,9; vgl. die Abb. S. 272). Denn geistig verstanden sind mit den „Kindern“ die bösen Gedanken gemeint, während der „Felsen“ Christus ist: „Wer solche Teufelskinder von Gedanken packt und an Christus zerschmettert, solche Menschen preisen den Herrn, der in ihnen wirkt“, heißt es im Vorwort der Benediktusregel (S. 269f). „Das grausame Bild vom Zerschmettern der Kinder am Felsen Christi wird zum Symbol für den Aufstieg, nämlich für ein geistiges Geschehen, ähnlich der Landnahme im Alten Testament“ (S. 274).

 

Hat der christliche Glaube zur Zerstörung der Erde geführt?

Das geistige Verständnis der biblischen Aussagen ist für den Glauben entscheidend, denn eine fundamentalistische Auslegung führt schnell zur Gewalt gegen Andersgläubige, zum Kampf um das „Land“ (Palästina) und zu einem falschen, zerstörerischen Verständnis des Herrschaftsauftrags des Menschen über Erde und Tiere (Gen 1,28). Christen sind Pilger des Himmelreiches und „Fremde und Gäste auf Erden“: „Denn wir haben keine Stadt, die bestehen bleibt, sondern wir suchen die künftige“ (Hebr 11,13; 13,14). Aber gerade deshalb können sie die Erde ‚schonen’ und auch als Gabe des Schöpfers in ihrer Schönheit preisen, ohne sie mit ihren endlichen ‚Ressourcen’ bis ins Letzte auspressen zu müssen.

Der Name des heiligen Georg, der als ‚Drachenkämpfer’ eine große spirituelle Bedeutung erlangte und dem deshalb viele Kirchen und auch Diözesen (Limburg) geweiht sind, heißt übersetzt ‚Bearbeiter der Erde’ (geo, gaia). Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt und deshalb als Prototyp des Bösen gilt (vgl. 1 Joh 3,12), wird als „Diener der Erde“ (hebr. Oved Adamah: Gen 4,2) bezeichnet, das heißt als „Götzendiener“. Die Schlange im Paradies, die mit dem „großen Drachen“ identisch ist (Offb 12,9), steht für den kanaanäischen Fruchtbarkeitskult und damit den Götzendienst überhaupt. Götzendiener ist der Mensch, wenn er in der äußeren, vergänglichen Frucht den Sinn seines Lebens sucht.

Renate Fuchs-Haberl, laut ihrer Homepage „Landschaftsmythologin, Ritualfrau, zertifizierte Natur- und Landschaftsvermittlerin, Referentin für moderne Matriarchatsforschung, Leiterin matriarchaler Jahreskreisfeste und Referentin für Frauenthemen im katholischen Bildungswerk Salzburg“, hat die Gestalt des ritterlichen Drachenkämpfers aufgegriffen, um daran den Kampf des Christentums gegen das Heidentum darzustellen. Stehen doch die den ersten Glaubensboten geweihten „Gotteshäuser mit besonderer Vorliebe an ehemals heidnischen Opferstätten“. „Der Drache und die Drachin stehen für die Kräfte der Elemente. Aus dem asiatischen Raum kennen wir sie noch, die Wasser-, Feuer-, Luft- und Erddrachen, die dort noch Glückssymbole sind, da ohne ihre Kräfte kein Leben auf der Erde möglich wäre. In der Geomantie werden die Energiebahnen der Erde als ‚Drachenlinien’ bezeichnet.“

 

Der Sieg über das Böse in der Kraft des Kreuzes

Die Autorin sieht in Georgs Drachenkampf nicht den „Sieg des Guten über das Böse“ (Sünde, Tod und Teufel) symbolisiert; vielmehr erscheine so „die Abwertung und Diffamierung der erdverbundenen, matriarchalen Spiritualität als ‚das Böse’… Was nicht mehr als heilig betrachtet wird, kann von den Konzernen gnadenlos bis zum letzten Rest zur Ressource gemacht werden.“ Die vorchristlichen Religionen und Riten hätten dagegen im Einklang mit der Natur die Vegetation und Fruchtbarkeit der „Mutter Erde“ im Frühling geweckt durch Sonne, Wind und Regen.

„In indigen-matriarchalen Kulturen sahen die Menschen in diesen Naturkräften den Herosgeliebten der Erde, mit dem sie ‚Heilige Hochzeit’ feierte. Überall dort, wo sich ein Sonnenstrahl, ein Regentropfen, ein Windhauch mit einem ihrer unzähligen Blütenkelche vereinigte. Vielleicht sticht Georg mit seiner Lanze den Drachen oder, besser gesagt, die Drachin gar nicht ab? Vielleicht will er sie gar nicht töten, sondern nur seine ‚Lanze’ wieder in ihr versenken dürfen…“ (Im Hebräischen hat ‚Schlange’ den männlichen, nicht weiblichen Artikel; zur Übertragung des „Modells der Heiligen Hochzeit auf das Verhältnis zwischen Gott und Israel“ beim Propheten Hosea vgl. Ludger Schwienhorst-Schönberger, Heilige Hochzeit, in: CiG 29/2020, 323).

Die Lanze des heiligen Georg ist kein (horizontales) Phallus-Symbol, sondern ein (vertikaler) Kreuzstab, weil sein Sieg über den Drachen nur in der geistigen Kraft des Kreuzes möglich ist. Schon die Erschaffung der Welt wird im Alten Testament als „Drachenkampf“ dargestellt (vgl. Ps 74,13f; Ps 104,7-9; Ijob 26,12f; Jes 51,9f; Jer 5,22). „Schöpfung bedeutet in der Bibel geradezu den Sieg Gottes über das Meerungeheuer“ (Daniel Krochmalnik). Dieser Sieg erst schafft „Raum für die Weltordnung und den Menschen“. Den Fruchtbarkeitsgöttern müssen keine Menschen mehr geopfert werden, weil Gott sich selbst restlos für das Leben des Menschen einsetzt bis hin zum Opfertod seines Sohnes am Kreuz. Der christliche Glaube an Fleischwerdung, Kreuz und Auferstehung Christi als Sohn Gottes „ist der Sieg, der die Welt besiegt hat“ (1 Joh 5,4).

Welt, Erde, Natur, das Diesseits sind von Gott geschaffen und deshalb nicht als solche „Feinde“ Gottes; das werden sie in gewisser Weise erst durch den gefallenen Menschen (Röm 5,10), indem er in der falschen Hoffnung, durch ‚Wissenschaft’ (Schlangen-Klugheit) und Technik ‚wie Gott’ zu werden, das Endliche verabsolutiert und vergöttert. Dadurch wird das irdische Leben zur ‚letzten Gelegenheit’, um „die Güter des Lebens (zu) genießen und die Schöpfung aus(zu)kosten“ bis zum Ende, wie die glaubenslosen „Frevler“ sagen, die den Tod herbeirufen und mit ihm „einen Bund“ schließen (Weish 1,16; 2,6).

 

Gottes Einwohnen im Menschen durch den Glauben

Die alten Religionen haben Tempel nicht nur als ‚Opferstätten’, sondern auch als ‚Wohnung Gottes’ errichtet, um durch die Gegenwart des Göttlichen Segen und Fruchtbarkeit zu erlangen. Von diesem Gedanken lebt auch noch mehr oder weniger viel im Alten Bund fort. Im Neuen Bund geschieht eine „Vergeistigung“ und „Verinnerlichung“, wie Mechthild Clauss herausstellt: „Die Einwohnung des Gottes im gläubigen Menschen ist die Gabe Christi im Neuen Bund. Diese Gabe bedeutet: Teilhabe an Christus! Erst durch Opfertod und Auferstehung des Gottessohnes kann dieser dem Menschen so nahe sein, dass seine Gegenwart überall erfahrbar ist. ‚Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir’, – so beschreibt Paulus die Einwohnung Gottes, die dem Gläubigen geschenkt ist. Im Alten Bund kam Gott von außen; jetzt kommt er von innen! (Gal 2,20)“ (S. 143).

Der Psalmensänger und -dichter David präfiguriert diesen Gottessohn. In einer Miniatur spielt er – „versunken in seine Gespräch mit Gott“ – die Cithara, während die Seele (Anima) im Zentrum trauernd auf einem Berg sitzt; unterhalb und links von ihr erblühen fünf große, leuchtend rote Blüten, lilienförmige Kelche, beziehungsweise ein Baum mit fünf Ästen, die jeweils in fünf große fünfteilige Blätter münden: „Nicht Dreiheit und Vierheit stehen bei diesem letzten Bild im Vordergrund, sondern die Symbolzahl fünf, die Zahl des Menschen. Sie leitet sich heraus aus der Vierheit, dem Symbol der Erde, ist aber entscheidend geprägt durch ihr Zentrum, den Punkt in der Mitte, der sie erst zur Fünfheit macht“ (S. 141).

Der Baum als Feigenbaum erinnert an den Sündenfall; das strahlend helle Gelb der roten Blüten „deutet auf die unsichtbare Christus-Mitte, die sich in der Fünfzahl dieses Strauches verbirgt“ (S. 142). Die Fünf als Verbindung von 1 (Gott) und 4 (Welt) ist die Zahl des Menschen A-dam (1-4-40) wie auch die Zahl der Thora (Genesis = 1, Exodus, Levitkus, Numeri, Deuteronomium = 4), weil sie die Zahl des Bundes ist, der im Sündenfall  bricht (aus Adam wird -dam = Blut), im „kostbaren Blut“ des am Kreuz geschlachteten Gotteslammes, das „schon vor der Erschaffung der Welt dazu ausersehen“ war (1 Petr 1,19f), aber neu und für immer geschlossen wird.

Aus dem durchbohrten Herzen des Erlösers am Kreuz, der ‚fünften’ Wunde, entspringen die zwei Sakramente des Neuen Bundes und der Einheit der Kirche: Taufe („Wasser“) und Eucharistie („Blut“), die in der Kraft des „überlieferten“ Heiligen Geistes (Joh 19,30.34) eine neue Herzensgemeinschaft zwischen Gott und Mensch begründen: „Durch den Glauben wohne Christus in eurem Herzen. In der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet, sollt ihr zusammen mit allen Heiligen dazu fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen und die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt“ (Eph 3,17-19).

 

Offenbarung durch den präexistenten und wiederkommenden Christus

Mechthild Clauss hat durch ihre kenntnisreiche und tiefgründige Deutung der Psalter-Miniaturen des 9. Jahrhunderts (wovon hier nur wenig dargestellt werden konnte) gezeigt, wie sich verborgen die Offenbarung dieser ewigen Liebe Gottes im präexistenten Christus im Alten Bund  ihren Weg bahnt und ans Licht kommt, ja wie sich zuletzt auch Feigenbaum und Blütenstrauch, Erkenntnisbaum (4) und Lebensbaum (1) „einst … vereinen“ werden (S. 146;  die Miniatur des Titelbildes zeigt Christus mit dem vertikal aufgestellten Kreuzstab zwischen den beiden Bäumen im Gegenüber zur Schlange als Miniatur zu Psalm 23: „Der Herr ist mein Hirte“, S. 94-98).

In Psalm 49,16 heißt es: „Gott wird mich loskaufen aus dem Reich des Todes, / ja, er nimmt mich auf“; und in Vers 5 singt David: „Ich wende mein Ohr einem Weisheitsspruch zu,/ ich enthülle mein Geheimnis beim Harfenspiel“: „Die Harfe lässt Weisheit, die von Gott kommt, erklingen, denn sie stellt die Verbindung zu Gott her (V.5)“ (S. 150). Der hebräische Psalter hat notwendig 150 und nicht 151 Psalmen, weil die Zahl 15 die Zahl der Kurzform des Gottesnamens Jah (10-5) ist. Deshalb sind es im Jerusalemer Tempel auch jeweils 15 Stufen vom äußeren Vorhof der Frauen beziehungsweise Völker (Heiden) ins Innere über die Vorhöfe der Männer, der Priester und des Heiligtums bis zum innersten Allerheiligsten hinter dem verbergenden Vorhang mit der Bundeslade (mit den zwei Gesetzestafeln: 5 + 5) als ‚Wohnung Gottes’  (4–1).

Das vorgegebene Hauptthema des Miniators des 9. Jahrhunderts war „das Kommen des Messias“ (S. 43) und seine prophetische Ankündigung. Auf dieses Kommen richtet sich auch die Hoffnung der Geheimen Offenbarung des Johannes am Ende der christlichen Bibel (Offb 22,17-20). Zielbild ist hier das Viereck (Würfel) des himmlischen Jerusalem als Braut des Lammes, in dem der eine Gott ganz einwohnt (Offb 21,15-27; 22,1f): „Das Fünfzahl Symbol der Einwohnung Gottes im gläubigen Menschen hat hier Bildgestalt gewonnen. Man glaubt, dazu die uns vertrauten Worte des 43. Psalms zu hören: ‚Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten zu deiner Wohnung’ (V.3). Des alttestamentlichen Sängers Gebet findet in der Himmelsstadt seine höchste Erfüllung. Erleuchtet von ‚Licht’ und ‚Wahrheit’ bringen die Völker ihre Gaben. Das Gespräch der Gläubigen mit dem Erlöser wird hier niemals enden!“ (S. 147).

Dass die frühen Christen die Wiederkunft des Messias aus dem Ostern erwarteten und deshalb ihre Gebete in den geosteten Kirchen zum Aufgang der „Sonne der Gerechtigkeit“ (Mal 3,20) hin richteten, geht auf eine Verbindung von Apg 1,11 („dieser Jesus … wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt auffahren sehen“) mit Psalm 68,34 zurück: „der dahinfährt über den Himmel, dem uralten Himmel“. Hebr. kedem ist hier mit „uralt“ übersetzt, eigentlich aber bedeutet es „vom Sonnenaufgang, früher, ursprünglich“ (vgl. Adam Kadmon = der ursprüngliche Mensch). Die Zusammenschau beider Schriftstellen zeigt einmal mehr, wie sehr den frühen Christen der ganze Psalter als Zusammenfassung des ganzen Alten Testaments galt. Der Jesuit Michael Schneider kann deshalb sagen: „Für die Kirchenväter gleicht die Heilige Schrift einer Leier“ (217; zum Psalter vgl. 318-368).

Klaus W. Hälbig

 

Hinweis: Mechthild Clauss, Illustration als Textauslegung. Der karolingische Stuttgarter Psalter um 830, St. Ottilien 2018, 311 Seiten mit 50 farbigen Abbildungen, 29,95 €.

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