Körperdienst als Götzendienst: seelen-, scham- und freudlos

Bild: Jesus, der seinen Aposteln die Füße wäscht, lässt sich von einer öffentlichen Sünderin oder Prostituierten die Füße mit ihren Tränen der Reue waschen, mit ihren Haaren trocknen und mit wohlriechendem Öl salben: „Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie (mir) so viel Liebe gezeigt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe“ (Lk 7,36-47). Die Pharisäer und Gesetzeslehrer mokieren sich darüber ebenso wie über die Ehebrecherin, die sie bei frischer Tat ertappen; doch auch sie wird von Jesus nicht verurteilt (Joh 8,1-11) – Fresko in der Basilika Santa Caterina Alessandria in Galatina im Süden Apuliens.

 

Der Körper ist biblisch der „Tempel des Heiligen Geistes“ (1 Kor 3,16; 6,19) und damit der Ort des Gottesdienstes im Geist als Selbstdarbringung im heiligen (Brand-)Opfer (Röm 12,1). Er kann aber auch zum Ort des Götzendienstes werden, das heißt des „Dienstes am Äußeren“ (hebr. awoda sara) wie besonders der sexuellen „Unzucht“ (1 Kor 6,18; Kol 3,5) und der Prostitution. Eine ehemalige Prostituierte hat ihre Erfahrungen jetzt in einem viel bachteten Buch veröffentlicht: „Körper sucht Seele“.

Das sehr persönliche „Sachbuch“ der heute 58-jährigen Anna Schreiber, die nach ihrer fast dreijährigen Tätigkeit als „Liebesdienerin“ eine psychotherapeutische Ausbildung nachholte und heute in Karlsruhe ihre eigene Praxis hat, fand in verschiedenen Medien große Aufmerksamkeit (s. ihre Homepage www.annaschreiber.de). Schließlich geschieht es nicht alle Tage, dass eine ehemalige Prostituierte ihre Tätigkeit nachträglich kritisch reflektiert, ihre (Selbst-)Täuschung durchbricht und Prostitution als das darstellt, was sie in Wahrheit ist: ein Körperdienst als Götzendienst ohne Seele, Scham (Ehre) und Freude.

 

Umkehr als Weg von der Lüsternheit zur wahren Freude

Wenn Bordelle landläufig „Freudenhäuser“ heißen, so ist das mehr als ein Euphemismus. Denn mit hat das Sex-Geschäft am allerwenigsten zu tun. Es geht bei der (Selbst-)Prostitution allein ums Geld, weshalb es auch zu keinem Austausch von Küssen kommt: der „Freier“ wiederum sucht eine Anstachelung seiner eigenen Geilheit oder Lüsternheit.

Der klinische Psychologe Gabriel Strenger (Jerusalem) schreibt zum biblischen Vertsändnis der Lüsternheit (hebr. Ta‘awa), sie mache „die Lust zum Selbstzweck, zum Götzen. Ta‘awa ist die Eigenschaft des ‚Baumes der Erkenntnis‘, der den Menschen aus der paradiesischen Ganzheitlichkeit reißt (vgl. 1. Buch Mose 3,6) und ihn gierig, unersättlich macht“; er wird ein „Sklave seiner Lust“ (Jüdische Spiritualität in der Tora und den jüdischen Feiertagen, 2016, 55; zur ‚Lüsternheit‘ als ‚Götzendienst‘ vgl. auch 25; 208; 294 sowie Mt 5,28: der lüsterne Blick als Beginn des Ehebruchs).

Paulus warnt entsprechend die Getauften, nicht so für den sterblichen Körper und seine sinnlichen Bedürfnisse zu sorgen, „dass die Begierden erwachen“ (Röm 13,14). „Die Speisen sind für den Bauch da und der Bauch für die Speisen; Gott wird beide vernichten. Der Leib ist aber nicht für die Unzucht da, sondern für den Herrn, und der Herr für den Leib. Gott hat den Herrn auferweckt; er wird durch seine Macht auch uns auferwecken. Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind? Darf ich nun die Glieder Christi nehmen und zu Gliedern einer Dirne machen? Auf keinen Fall! Oder wisst ihr nicht: Wer sich an eine Dirne bindet, ist ein Leib mit ihr? Denn es heißt: Die zwei werden ein Fleisch sein“ (Gen 2,24). Wer sich dagegen an den Herrn bindet, ist ein Geist mit ihm. Hütet euch vor der Unzucht! Jede andere Sünde, die der Mensch tut, bleibt außerhalb des Leibes. Wer aber Unzucht treibt, versündigt sich gegen den eigenen Leib“ (1 Kor 6,12-18).

Die Bindung an den „Herrn“, das heißt an den gekreuzigten und auferstandenen Christus als göttlicher Kyrios, was die griechische Übersetzung des hebräischen Gottesnamens JHWH ist, geschieht durch den Glauben, der in der Taufe (analog zur Beschneidung des männlichen Glieds am „achten Tag“) sein sakramentales Zeichen hat. Zuhöchst geschieht diese Bindung im Bundeszeichen der Eucharistie, des ‚Aufnehmens’ des Wortes Gottes als heilige Speise, wobei Jesus selbst herausstellt: „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu Ende zu führen“ (Joh 4,34). An der Eucharistie teilzuhaben bedeutet also, das zeitliche Sieben-Tage-Werk des Schöpfers zu vollenden in der Auferstehung des Leibes am „achten Tag“ (Sonntag) zur Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit.

Die sakramentalen Zeichen der Taufe („Wasser“) und der Eucharistie („Blut“) geben den Gläubigen im Heiligen Geist gleichermaßen Anteil an der künftigen Herrlichkeit des ewigen Lebens (vgl. Joh 19,34; 1 Joh 5,3-7; Röm 5,2; 8,21). Durch die Teilnahme an der heiligen Eucharistie in der Kirche wird der Gläubige „ein Leib und ein Geist“ mit Christus (Eph 4,4), der seinerseits im Heilige Geist eins ist mit dem himmlischen Vater (Joh 10,30; 17,21). Das ‚Abendmahl’ ist so gleichsam das Gegenmittel oder ‚Gegengift‘ gegen die Übermacht irdischer Lust und Begierde, und zwar im Zeichen des Kreuzes, das eine universale Beschneidung der Menschheit symbolisiert, „die man nicht mit Händen vornimmt, nämlich die Beschneidung, die Christus gegeben hat. Wer sie [mit der Taufe] empfängt, sagt sich los von seinem vergänglichen Körper“ (Kol 2,11).

Wie sich die Juden durch das Bundeszeichen der Beschneidung von den Heiden abgrenzen, so auch grenzen sich die Christen von den Ungläubigen ab, dessen Denken „vom Gott dieser Weltzeit“ (das heißt vom Teufel) „verblendet“ ist (2 Kor 4,4). „Ungläubig“ sind all jene, die nur „Irdisches im Sinn“ tragen und deshalb als „Feinde des Kreuzes“ leben (Phil 3,18f). Demgegenüber haben die Gläubigen „das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt“ (Gal 5,24), das heißt in die von Gott gewollte Ordnung der wahren Liebe gebracht.

„Fleisch und Blut“ können das unvergängliche Reich Gottes nicht erben (1 Kor 15,50). Ein Christ zu werden bedeutet, sich abzukehren von der Sünde, die den Tod gebiert, insbesondere von „Unreinheit, Unzucht und Ausschweifung“ (2 Kor 12,21), wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn zeigt, der sein ererbtes „Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat“ (Lk 15,30). Seine Umkehr zum (himmlischen) Vater ist Anlass zu riesiger Freude und zu einem großen Fest: „Jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot (!) und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden“, wie der Vater seinem daheim gebliebenen Sohn erklärt, der mit Neid und Ablehnung auf die Wiederherstellung der Sohneswürde im „besten (= ersten, ursprünglichen) Kleid“ und dem Ring der Gemeinschaft reagiert (Lk 15,22.31f).

 

Käufliche Sexualität als Sex-Sklaverei

Die aus einem katholischen Elternhaus kommende Anna Schreiber hatte nach dem Abitur und einer frühen Schwangerschaft Anfang der 80er Jahre (im Alter von 21) aus Geldnöten angefangen, für ihr Kind und „ihren Mann“ ihren Körper gegen Geld zu verkaufen. Fast drei Jahre erlebte sie in Bordellen und Nachclubs männliche Gewalt, Erniedrigung, Entehrung, Leid, Ekel, Freudlosigkeit, Schamlosigkeit und Schuld – für sich selbst verdrängt und „abgespalten“. Durch glückliche Umstände und nicht zuletzt durch das Krankwerden ihres endlos missbrauchten Körpers (wegen Gewalterfahrung war sie zweimal im Krankenhaus und oft in ambulanter Behandlung) gelang ihr nach einem längeren Prozess der Bewusstwerdung und Reflexion die Beendigung des Albtraums.

Sie wurde erst Sekretärin, studierte dann Psychologie, arbeitete in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung und hat seit 2008 ihre eigene Praxis als Psychotherapeutin und Paarberaterin, wo auch Prostituierte und so genannte „Freier“ ihren Rat suchen. Ihre einfache, heute aber überaus notwendige Botschaft lautet: Die Verbindung von Sexualität und Geld ist für alle unmittelbar Betroffenen sowie für die ganze Gesellschaft unheilvoll und schändlich; denn Sexualität will mit Liebe, Vertrauen und Freiheit verbunden sein.

Dass gekaufte und käufliche Sexualität irgendetwas mit Liebe und „Freiwilligkeit“ zu tun hätte, sei eine bloße Schutzbehauptung. „Freiwilligkeit“ müsse vorgespielt werden, um zu verschleiern, dass die Sehnsucht des Freiers, das (in der eigenen Ehe) verlorene Erotische in sein Leben zurückzuholen, auf zwanghafte Weise nicht gelingen kann. Im ebenfalls „abgespaltenen“ Inneren des Mannes beim bezahlten Sex werde dieser auch nicht wirklich „befriedigt“, weshalb er ja schnell erneut Prostituierte aufsucht oder gleich „Stammkunde“ bei der einen wird.

Anna Schreiber hat zwar erst nach über drei Jahrzehnten – nicht zuletzt zum Schutz ihrer beiden Töchter und auch inzwischen der Enkel – ein Buch über ihre Erfahrungen als „Liebesdienerin“ geschrieben. Aber sie versteht Darstellung ihrer „Geschichte“ selbst nicht als Autobiographie, sondern als „Sachbuch“ über Vorgänge, die sich tagtäglich Millionenfach in den deutschen Bordellen und einschlägigen „Clubs“ ereignen und durch die Legalisierung des Gesetzgebers inzwischen weithin als „legitim“ und „in Ordnung“ angesehen werden. Deutschland ist dadurch zum „Bordell Europas“ geworden, wie es oft heißt.

Kritiker bezeichnen dieses ‚System Prostitution’ als moderne Form der Sklaverei. Sie führe bei den betroffenen Frauen zu Apathie, Depression und Selbsthass sowie zu Alkohol-, Medikamenten- oder Drogenmissbrauch. Dass mit dem Prostitutionsgesetz auch die Scham ‚abgeschafft’ wurde, ist eine Entwicklung, die sich schon mit der ‚sexuellen Revolte’ der 68er angebahnt hat. Die einmal entfesselte Sexgier macht natürlich auch nicht vor Minderjährigen oder kleinen Kindern Halt, selbst Zweijährige werden weltweit von Pädophilen missbraucht.

Gegen die Verharmlosung, (Selbst-)Täuschung und – von interessierter Seite auch bewusst geförderte – Illusion und Tabuisierung der Prostitution setzt Anna Schreiber ihre ganz eigene, nicht fachwissenschaftliche, aber bei aller Subjektivität doch verallgemeinerungsfähige Erfahrung, die sie mühevoll gelernt hat, zu hinterfragen und kritisch zu reflektieren.

 

Abgespaltene Wirklichkeit als psychischer Schutzmechanismus

Hineingeschliddert ist sie in die damals noch vom Gesetzgeber verbotene Prostitution in dem Glauben, dadurch etwas für ihre eigene Anerkennung und für ihre Beziehung und „Liebe“ zu ihrem Mann zu tun, der seine männliche Schutzfunktion nicht nur nicht ausübte und sie vor dem Absturz in den käuflichen Sex bewahrte, sondern sie im Gegenteil darin auch noch bestärkte. Um die unheilvolle Situation der Selbstauslieferung an fremde Männer und ihre Geilheit zu ertragen, musste sie – wie jede Prostituierte – einen Teil ihres Bewusstseins, ihrer Wahrnehmung und ihrer Selbstachtung „abspalten“, verdrängen und vor sich selbst verbergen. Mehr noch: Die Wirklichkeit ihrer „Sexarbeit“ erschien ihr zunehmend wie vernebelt, betäubt, unwirklich, als sei sie selbst gar „nicht dabei“.

Dabei trat ihr Mann nicht eigentlich als gewalttätiger Zuhälter auf wie bei zahllosen anderen Frauen vor allem aus Südosteuropa, die zu Hunderttausenden in deutschen Bordellen als „Zwangsprostituierte“ anschaffen. Gewalt wirkt als psychische Gewalt noch viel wirksamer und unmittelbarer. Sie selbst weiß heute, dass die gemachten bösen Erfahrungen das ganze Leben über prägend bleiben und sich nicht einfach ungeschehen machen lassen:

„Ich kleidete mich so unauffällig wie möglich. Flache Schuhe, weite Kleidung, ungeschminkt. So merkwürdig es klingen mag, doch ich wurde trotzdem angesprochen von fremden Männern, Lehrer machten mir eindeutige Angebote, Autos hielten neben mir an und die Fahrer fragten, was es koste. Ich verstand das damals nicht, fühlte mich wie eine Gezeichnete, wie gebrandmarkt. Heute verstehe ich, dass es wohl ein Phänomen der gegenseitigen Resonanz gewesen sein muss, ein intuitives Erfassen und Erkennen im wissenden Raum“ (212).

Umso dankbarer ist sie heute, dass sie überhaupt lebend aus dem Albtraum Prostitution herausgekommen ist und nun andere Frauen davor warnen kann, auf diese Weise „leichtes“ und „schnelles“ Geld verdienen zu wollen. Aber auch die „Freier“ werden in ihrem Buch dazu angehalten, über ihre eigenen Sehnsüchte, Gefühle und „Vorlieben“ nachzudenken und darüber, was sie den „gekauften“ Frauen mit ihrer Sexgier antun.

Das gilt nicht minder für die Riesenzahl von Nutzern der Pornografie im Internet, die für Anna Schreiber „Prostitution vor der Kamera“ ist: ein Milliarden-Geschäft mit katastrophalen Auswirkungen auf die Sexualität der Männer. Denn das in schnellen Kameraschnitten und mit Nahaufnahmen Gezeigte hat mit einer liebevollen Sexualität und auch mit „Spaß“ nichts zu tun. Der Massenkonsum einer solch „völlig anderen Form von Sexualität“ (das heißt perversen Form) hat auch bei den Konsumenten Folgen, nicht nur für ihre sittliche Verwahrlosung, sondern auch hinsichtlich von Erektionsstörungen und der zunehmenden Unfähigkeit, noch mit ihrer „normalen“ Frau zu sexuell zu verkehren.

 

Gesellschaftliche Ächtung von Prostitution und Pornografie

Deshalb sollten Anna Schreiber zufolge nicht nur die käufliche Prostitution, sondern auch die im Internet kostenlos verfügbare Pornografie gesellschaftlich geächtet werden. Denn (fast) niemand bekennt sich in aller Öffentlichkeit dazu, als Prostituierte ihre Sexdienstleistungen zu „verrichten“ oder sie in Anspruch zu nehmen oder Pornofilme zu schauen. Und niemand wünscht sich, dass seine Tochter in diesem unehrenhaften „Gewerbe“ und „Rotlicht-Milieu“ arbeiten sollte. Denn, so die Autorin, Prostituierte zu sein ist kein ehrbarer und ehrenhafter „Beruf“: „Eine Prostituierte tut also gut daran, ein Doppelleben zu führen. Ein Doppelleben als Ausdruck und Preis unserer Doppelmoral“ (163).

Deshalb sind auch die Namen der Liebesdienerinnen zum eigenen Schutz niemals die eigenen, sondern Pseudo-Namen. Prostitution „ist eine Weise, in der eine Frau sich verhält – einem inneren oder äußeren Zwang folgend –, es ist kein Beruf. Dieser Bezeichnung haftet ein Stigma an, das über Jahrzehnte an der Frau hängen bleibt. Deshalb lässt sich bis heute die Mehrzahl der Prostituierten nicht registrieren – zu Recht. Ist die Büchse der Pandora einmal geöffnet, lässt sie sich nicht mehr schließen. Das Stigma haftet der Frau an, unabsehbar, nicht beeinflussbar, nicht kontrollierbar“ (162).

Für Anna Schreiber hat die Erfahrung einer einzigen wirklichen „Liebesnacht“ mit einem Mann, den sie ein halbes Jahr zuvor kurz kennen gelernt hatte, sie dazu gebracht, nach über zwei Jahren des „Verkaufs“ ihres Körpers gegen Geld endlich damit aufzuhören: „Es ist der 3. Oktober 1985. Wie lange haben wir aufeinander gewartet, und wie schnell finden wir uns wieder in dieser Nacht des gegenseitigen Erkennens, in dieser Nacht der Liebe. Ab dieser Nacht nehme ich nie wieder Geld für Sex. Es hat aufgehört“ (180).

Im Sommer 1984 noch saß sie „an Bord des Neckardampfers, den eine Ärztegruppe [!] gechartert hat, inklusive Begleitservicedamen und Champagner. Unter Deck: jeder Mann mit jeder Frau, nacktes Schlachtvieh in perverser Variation. Über Deck: bekleidet, sonnig. (…) Ich hänge in den Seilen an Bord wie ein gerupftes Huhn, wie geschlachtet und ausgenommen, das sich noch kurz besinnt und wie über sich schwebend wahrnimmt, dass es eben gerupft und ausgenommen wurde“ (207). Mit einer Freundin bespricht sie, wie es wäre, wenn ihre Töchter dasselbe Schicksal erleiden müssten; dabei geschieht ein erstes Wachwerden: „Die Liebe, die weit über mein Kind und mich hinaus geht“, taucht alles in helles Licht und lässt den Entschluss zum Aufhören reifen (208).

 

Wird die „Liebesdienerin“ zur „Priesterin“ und „Mittlerin“?

Zuletzt hatte sie „nur“ noch als „Domina“ ihr Geld verdient, was sich auch dank des Interesses der Zeitungen und Medien an einer extremen SM-„Spielart“ gut verkaufen ließ. Dabei ist es auch hier nur scheinbar die Frau, die das Sagen hat: „Auch in diesem Rahmen ist der zahlende Mann derjenige, der bestimmt, was geschieht“ (183).

Das Thema „Domina“ nimmt in dem Buch einen relativ breiten Raum ein (171–194) und endet mit schwer nachvollziehbaren Kapitelüberschriften wie „Unsere weibliche Göttinnennatur“ oder „In der Sexualität dem Mann als Göttin begegnen“ („sich verehren lassen, sich anbeten lassen“), wo die frühere (selbst-)kritische Sicht auf die Prostitution fasst verlassen oder doch sehr verblasst erscheint. Ein Liebesakt als „Liebesdienst“ außerhalb der käuflichen Prostitution ist nicht einfach schon „Gottesdienst“ (218f) und die „Liebesdienerin“ nicht „Priesterin“ und „Mittlerin zwischen Göttlichem und Geschöpflichem“: „eine Mittlerin mit einer dafür besonderen Berufung und Vollmacht“. „Als der Liebe Dienende dürfen wir dieser besonderen Berufung trauen, in dieser besonderen Ermächtigung achtsam handeln“ (233).

Wer hat hier wen wozu ermächtigt? Sind es die Erfahrungen der ehemaligen Prostituierten, die sie „gelehrt“ haben, wie kostbar das Leben ist, wie „tief“ männliche Liebe sein kann, wie „Weiblichkeit in ihrer Fülle“ gelebt wird, was „stolze Weiblichkeit“ ist, was mutige, außergewöhnliche, begehrte, wissende, wertvolle, sich zeigende Weiblichkeit mit „weiblichen Lösungen“ für Sexualprobleme (223-233)? Oder ist es der Heilige Geist, der aus dem (sexuellen) Körper (wieder) einen Tempel der Gottesverehrung macht?

Die „wissende Sexualität“ lässt an die „vielwissende“ Hexe oder „Zaunreiterin“ (Hagazussa) denken: „Die wahre Bedeutung des Kompositums hagazussa bleibt noch im Dunkeln …“ Das Wort ‚hag‘ bedeutet „Grenze, ein Schutz gegen die bösartigen Geister, die nicht in den eingehegten Raum vordringen dürfen und sich wahrscheinlich im Zaun niederlassen“. Hagazussa ist von daher die weibliche Form des genius loci vor dem eingehegten Raum (des Paradieses): eine Art dämonisches Nachtgespenst, das der römischen Striga, der ‚Tochter der Nacht‘, entspricht. Dieser wird „ein dämonischer Charakter beigelegt, sie ist auch eine Art Hure und eine Art Menschenfresserin, die nachts verabscheuungswürdigen Mählern beiwohnt“. „Die Gleichstellung der Hexe mit der Hure ist schon in der Lex salica (um 500) belegt, wo strygae und formicariae für dasselbe gehalten sind.“ Im Altnordischen ist die Hexe „eigentlich die Vielwissende“. „Ein weiterer Name ist gygr ‚Riesin‘“ (Cl. Lecouteux, Hagazussa – Striga – Hexe, in: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung 18 [1985], 57-70).

Die Hexe ist also – ähnlich der „Hure Babylon“ (Offb 17,1-18) oder der Lilith als nächtliche Gegenspielerin zur Eva des Paradieses in der jüdischen Mythologie – die Weltgestalt des bloß Materiellen, des Körperlichen, das Äußeren ohne das Innere der Seele und des Geistes. Von ihr zu unterscheiden ist Holda (Frau Holle) als holde (= gnädige) ‚Nachtfrau‘.

 

Sakrale Sexualität oder heilige Ein-Ehe?

Erst recht zweideutig wird Anna Schreiber am Schluss ihres Buches, wenn sie „ein transzendentes Erleben in der Sexualität“ in Aussicht stellt und eine „sakrale Sexualität. Es gibt nur noch dies. Es bleibt nichts anderes, weder Vergangenheit noch Zukunft. Alles ist jetzt. Wir erleben uns geworfen in den Augenblick. In den einzigen und einen, in dem wir durch unseren Körper hindurch das Eine sind“ (234).

Wird hier eine unio mystica, das Ein-Geist-und-ein-Fleisch-sein mit dem Herrn, auf dem Weg der sexuellen Vereinigung beschrieben statt auf dem Weg der heiligen Eucharistie? Immerhin zählt Anna Schreiber zur ihren „Lehrmeistern“ (auf ihrer Homepage und im Buch) auch katholische Mystiker wie Meister Eckhard, Teresa von Avila und Johannes von Kreuz („die Nacht der Sinne“). Oder geht es um sakrale Prostitution, die im altorientalischen Umfeld Israels zuhauf angeboten wurde und Ausdruck der heidnischen Fruchtbarkeitskulte war?

Joseph Ratzinger schreibt dazu in seinem Buch zur Mariologie Tochter Zion (³1978, 14f): „Wenn die weltweiten Fruchtbarkeitskulte unmittelbar theologisch die Prostitution begründen, so drückt sich die Konsequenz von Israels Gottesglaube für das Verhältnis von Mann und Frau als Ehe aus. Die Ehe ist hier unmittelbare Übersetzung von Theologie, Konsequenz eines Gottesbildes; hier und gerade hier gibt es im eigentlichen Sinn eine Theologie der Ehe, wie es im Fruchtbarkeitskult eine Theologie der Prostitution gibt.“

Dies bleibe zwar „im Alten Testament noch durch manche Kompromisse verschattet, aber was Jesus in Mk 10,1-12 [Verbot der Ehescheidung] entscheidet und was Eph 5 [eheliche Liebe zwischen Mann und Frau nach dem Vorbild der Bundesliebe zwischen Christus und der Kirche] dann theologisch weiterführt, ist reine Konsequenz alttestamentlicher Theologie“. Nicht die Sexualität ist für Israel und dann die Kirche sakral, sondern das Sakrament der Ein-Ehe von Getauften ist heilig und gerade kein „weltlich Ding“ (Luther), auch wenn christliche Eheleute in der Welt leben.

 

„Aus einem Meer von Leid das Heilmittel der Liebe destilliert“

Anna Schreibers großer Dank gilt am Schluss des Buches besonders auch „Dr. Eugen Drewermann…: Ihre Bücher und Vorträge sind meinem Leben seit Jahrzehnten Orientierung und Stütze. Dass Sie ein Vorwort zu meinem Buch verfasst haben, kann ich immer noch kaum fassen“ (236). Der durch die Verbindung von Theologie und Psychotherapie bekannt gewordenen Paderborner Theologe schreibt seinerseits im Vorwort: „Es ist ein Buch, ergreifend subjektiv geschrieben, und doch gerade deshalb allgemeingültig in seiner objektiven Wahrheit. Es destilliert aus einem Meer von Leid das Heilmittel der Liebe, und das in einer feinen, scharfsinnigen, nie sentimentalen, doch emotional dichten Sprache. (…) Hier lernt man der Sehnsucht zu folgen. Hier lernt man dem eigenen Herzen zu glauben. Hier lernt man zu lieben. Es ist kein Sachbuch. Denn Menschen, Gott sei Dank, sind nicht mehr länger Sachen“ (14).

Allerdings hat Anna Schreiber auf ihrem Weg der Heilung keineswegs nur ihrem eigenen Herzen geglaubt, sondern auch die Szene der Nicht-Verurteilung der Ehebrecherin durch Jesus einfühlsam meditiert (s. u.). Vor allem aber hat sie ihr sündhaft dem Sex ausgeliefertes Leben einem katholischen Priester in einem Kloster tränenüberströmt gebeichtet:

„Als der Geistliche das Ego te absolvo sprach, hätte ich ihn umarmen mögen vor lauter Glück, das mich plötzlich durchfuhr, wären wir nicht durch eine Holzwand getrennt gewesen. Ich war erfüllt von Leichtigkeit, Liebe und Licht. Mein Staunen, wie tief dieser Ritus mich erfasste, ging fast unter in all meiner Glückseligkeit. Ein verborgener kindlicher Anteil in mir hatte den Begriff der Sünderin tief verinnerlicht. Endlich war er [der Anteil?, der Begriff?] nun freigesprochen. Wie im Märchen war der böse Zauberbann gelöst. Ich sprang förmlich aus der Kirche heraus, erzählte fremden Menschen, dass ich eben gebeichtet hätte und wie wunderbar das sei. Sie werden mich eines ekklesiogenen Wahns – also einer ‚kirchlich oder religiös verursachten psychischen Störung’ – verdächtigt oder für verrückt gehalten haben. Mir war das egal: Ich schwebte. Im Klosterladen kaufte ich mir ein Holzkreuz aus wunderschön geschnitztem Olivenholz. Es hängt in meiner Wohnung. Ich vergesse die Freude nicht, sie bleibt“ (218).

Wann hat ein heutiger Mensch so über die katholische Beichte geschrieben und die darin liegende Freude des Heiligen Geistes so tief erfahren wie diese ehemalige Prostituierte? Liegt es nicht daran, dass hier das, was die so abgegriffenen Worte wie „Sünder“ (Klima-„Sünder“, Tempo-„Sünder“…) und göttliche „Gnade“ ihren eigentlichen Sinn zurück gewonnen haben? „Ich spreche dich los von deinen Sünden“ – wo kann man/frau nach einer solch tiefen Verlorenheit sonst noch irgendwo ein derart befreiendes Wort hören?

 

Sündenerkenntnis und -bekenntnis als Werk des Heiligen Geistes

Die Tochter eines katholischen Diakons, die in der kirchlichen Jugendarbeit aktiv war und zuletzt im Schulalter gebeichtet hatte, die „aus der Kirche aus-, dann wieder ein-, schlussendlich aber wieder ausgetreten“ ist (217), erinnerte sich so ihrer katholischen Herkunft, ohne dass diese freilich auch ihre Zukunft geworden wäre. Denn der erfahrenen Glückseligkeit in der Lossprechung und dem Freudensprung „förmlich aus der Kirche“ folgte kein Sprung in die Kirche (auch Drewermann ist ja bekanntlich ausgetreten).

Sündenerkenntnis und -bekenntnis in der Beichte wurden nicht als das heilsame Wirken des Heiligen Geistes begriffen, der sein Werk der Heiligung auch heute noch in der Kirche und durch den Dienst der Kirche im Zusammenwirken mit dem im Glauben geöffneten Menschen vollbringt. Dabei ist die Taufe als Wiederherstellung der Gottebenbildlichkeit und so als Rückkehr zum Anfang und Ursprung zu verstehen oder selbst der Ur-sprung (spring-time: Frühling als Symbol des Anfangs des neuen Lebens im Geist). Ist doch der Getaufte nicht weniger als eine „neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17; Gal 6,15), und das Sakrament der Buße/Beichte wurde in der alten Kirche als eine Art „zweite Taufe“ gesehen.

Für den orthodoxen Theologen Symeon (gest. 1022) war die „zweite Taufe“ oder „Bußtrauer“ sogar wichtiger als die erste (Kinder-)Taufe, weil nur die bewusste Erfahrung der Wirkung des Heiligen Geistes den Menschen auf seinem Weg der Erlösung als Wiederherstellung seiner Gottähnlichkeit und so seiner Vergöttlichung (theosis) voranbringen kann. Denn „geschähe sie άγνώστως [unbewusst], dann wäre sie eine Union von Toten und nicht eine Union des Lebens mit den Lebendigen“ (Pablo Argárate, Feuer auf die Erde. Der Heilige Geist bei Symeon dem Neuen Theologen, 2007, 125 und 239).

 

Die katholische Kirche als natürlicher Verbündeter im Kampf

Der Kirchenaustritt Anna Schreibers ist so doppelt schade, denn in der katholischen Kirche hätte sie das „Heilmittel der Liebe“ im eucharistischen Ritus als „Sakrament der Liebe“ weiter vertiefen und auch klären können. Und sie hätte in der Kirche auch einen natürlichen Verbündeten für ihren Kampf gegen die „Legalisierung“ und „Normalisierung“ der Prostitution und Pornografie gehabt.

Im Katechismus der Katholischen Kirche heißt es zur Pornographie: Sie „besteht darin, tatsächliche oder vorgetäuschte geschlechtliche Akte vorsätzlich aus der Intimität der Partner herauszunehmen, um sie Ditten vorzuzeigen. Sie verletzt die Keuschheit, weil sie den ehelichen Akt, die intime Hingabe eines Gatten an den anderen, entstellt. Sie verletzt die Würde aller Beteiligten“, versetzt diese „in eine Scheinwelt. Sie ist eine schwere Verfehlung. Die Staatsgewalt hat die Herstellung und Verbreitung pornographischer Materialien zu verhindern“ (Nr. 2354).

Und zur Prostitution führt der Weltkatechismus aus: „Prostitution verletzt die Würde der Person, die sich prostituiert und sich dadurch zum bloßen Lustobjekt anderer herabwürdigt. Wer sie in Anspruch nimmt, sündigt schwer gegen sich selbst: er bricht mit der Keuschheit, zu der ihn seine Taufe verpflichtet hat, und befleckt seinen Leib, den Tempel des Heiligen Geistes. Prostitution ist eine Geißel der Gesellschaft. Sie betrifft für gewöhnlich Frauen, aber auch Männer, Kinder oder Jugendliche … Es ist immer schwer sündhaft, sich der Prostitution hinzugeben; Notlagen, Erpressung und durch die Gesellschaft ausgeübter Druck können die Anrechenbarkeit und Verfehlung mindern“ (Nr. 2355).

Prostitution ist „ein Preisgeben der eigenen Intimität auf Kosten der eigenen Identität“ (so E. Mack, Prostitution als Menschenrechtsproblem, in: Theologie der Gegenwart, 1/2014, 2-15, bes. 13). Drastisch formuliert es eine 47-jährige bulgarische Prostituierte: Für sie ist Prostitution eine „Teufelsarbeit“ (Südwestpresse vom 11. Juli 2014). Damit drückt sie dasselbe aus, was biblisch mit dem Begriff Götzendienst gemeint ist, der zusammen mit Mord und Ehebruch (sowie sexueller „Unzucht“) im Judentum und im Christentum zu den drei Kapitalsünden gehört, die vom Gottesreich ausschließen: „Draußen bleiben die ‚Hunde’ und die Zauberer, die Unzüchtigen und die Mörder, die Götzendiener und jeder, der die Lüge liebt und tut“ (Offb 22,15; zu den ‚Hunden’ vgl. Mt 7,6).

Wie die Staatsgewalt mit der illusionären „Legalisierung“ der Prostitution versagt hat, was das Leid nur verschleiert und moralische Orientierung erschwert, so auch bei der „Verhinderung“ der Pornographie, die sich inzwischen schon Schulkinder aufs Handy herunterladen. Wie soll unter diesen Bedingungen noch wahre Bildung als Selbstvervollkommnung und Selbstheiligung (Wiederherstellung des Bild-Gottes-seins) gelingen? Es ist daher höchste Zeit für einem „breiten Schulterschluss“ (Bischof Stefan Oster) von Politik, Medien, Kirche und Gesellschaft gegen diese massenhafte Missachtung der Menschenwürde.

Dies umso mehr, als heute ja Gewalt nur noch dann als legitim angesehen wird, wo sie vor schlimmerer Gewalt schützt. In der heutigen modernen Gesellschaft ist Gewalt „so erfolgreich geächtet, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen können, und wo wir nicht umhinkommen, sie dennoch zu sehen, sie nur als pathologische Monstrosität“ definieren (Jan Philipp Reetsma) – oder sie eben tabuisieren, um sie nicht sehen zu müssen. Das geschieht bei der Prostitution ebenso wie bei den ca. 300 ‚legalen’ und offiziell registrierten Abtreibungen allein in Deutschland pro Tag!

 

Keuschheit, Ehelosigkeit und priesterlicher Zölibat

Aber auch der sich immer mehr ausbreitenden Schamlosigkeit ist gesellschaftlich entgegenzutreten, denn sie zerstört den Schutz von der personalen (Selbst-)Zerstörung und vor der Unkeuschheit, die zur „Blindheit des Geistes“ (Thomas von Aquin) führt. Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken (München) hat in einer Kolumne im Philosophie-Magazin (6/2016, S. 20) unter dem Titel Keusche Kraft auf die große Bedeutung der (verlorenen) Keuschheit hingewiesen: „Keusch liebende Männer und Frauen hießen … Bräute Christi.“ Nach der Aufklärung sei der Begriff der Keuschheit jedoch unverständlich geworden, ja, er wurde zur Perversion (!) erklärt, „Nonnen und Priester zu Monstern“: Im 19. Jahrhundert „erklärte man die mystisch-erotischen Ekstasen der Nonnen zu perversen Phantasmen, buchstäblich verkehrten Trieben, denen die natürliche Abfuhr verwehrt werde“.

Noch in unserem 21. Jahrhundert werde die Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen (Mt 19,12) beziehungsweise der Zölibat, von dem „das Postulat der Keuschheit nicht zu trennen“ ist, „ausschließlich als Triebunterdrückung und Verzicht auf Sexualität und nicht als Möglichkeit für ein brennenderes, alles andere verzehrendes Gottesbegehren gesehen …: als Möglichkeit zu einer größeren, schöneren Fruchtbarkeit des Herzens“. Ihr Fazit: „Solange wir keine andere Sprache der Liebe als die eines scheinaufgeklären Sexualpositivs haben, wird kein Mensch mehr verstehen, was Keuschheit einmal hieß.“ Auch deshalb fühle sich in Deutschland „kaum noch jemand zum Priester berufen“ (ebd.).

Das Zweite Vatikanische Konzil ging noch davon aus, dass Zölibat und Keuschheit zumindest im Raum der katholischen Kirche verstanden werden. In der Dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium heißt es zur zölibatären Ehelosigkeit: „Christus liebt die Kirche als seine Braut; er ist zum Urbild des Mannes geworden, der seine Gattin liebt wie seinen eigenen Leib“ (LG 7). Zugleich ist Christus in seiner Jungfräulichkeit, Vollkommenheit und (eucharistischen) Lebenshingabe am Kreuz das Urbild des zölibatär lebenden Priesters, dessen Aufgabe es ist, „die Gläubigen einem Mann zu vermählen und sie als keusche Jungfrau Christus zuzuführen [2 Kor 11,2]; so weisen sie auf jenen geheimnisvollen Ehebund hin, der von Gott begründet ist und im anderen Leben ins volle Licht treten wird, in welchem die Kirche Christus zum einzigen Bräutigam hat“ (PO 16; vgl. LG 42).

Auch bei Luther spielt die Brautmystik noch eine große Rolle, allerdings nur bezogen auf den einzelnen Gläubigen, nicht mehr die Kirche als ganze. Wenn beim Evangelischen Kirchentag (Mitte Juni 2019 in Dortmund) unter Berufung auf die ‚Lebensbejahung’ der ersten Schöpfungserzählung für Frauen ein Workshop angeboten wird, (ihre?) „Vulven“ zu malen, dann zeigt sich darin nicht nur eine Anbiederung an den Zeitgeist, sondern auch eine Annäherung an den (neu-)heidnischen Götzendienst als ‚Dienst am Äußeren’. Der biblische Gott ist gewiss der „Freund des Lebens“ (Weish 11,26), aber er ist kein Götze und Liebhaber von Götzenbildern, deren Erfindung „zur Sittenverderbnis“ führt (Weish 14,12). Wie diese aussieht, zeichnet das Weisheitsbuch in so großer Klarheit, dass die Übertragung der damaligen Situation auf die heutige leicht fällt (vgl. Weish 14,22-31).

 

Die Sünde als Entfernung von Gott und dem ureigensten Wesen

Das mutige, bewegende und buchstäblich not-wendige Buch von Anna Schreiber leistet einen wichtigen Beitrag, die Diskussion in unserem Land über Wahrheit, Ehre und Würde in der Sexualität neu anzustoßen und die Schutzfunktion der Scham auch gesellschaftlich wieder aufzubauen. Auch wenn es nur in einem kleinen Verlag erschienen ist (die großen haben abgelehnt) und am Schluss zweideutige Passagen hat, verdient es hohe Beachtung. Am Schluss sei eine längere Passage aus Schreibers Auslegung der berühmten Perikope von der Nicht-Verurteilung der Ehebrecherin durch Jesus (Joh 8,1-11) zitiert, in der die Kirchenväter immer auch ein Bild der Kirche gesehen haben (S. 204f):

„Jesus tut das Wichtige, wodurch das Wesentliche sichtbar wird und sich Wandlung, nämlich, Heilung, vollziehen kann. Er spricht das Wichtige aus: ‚Auch ich verurteile dich nicht.’ Über diese Worte, über diese Haltung geschehen Wandlung und Heilung, denn die Frau fühlt sich gesehen, geachtet und aufgerichtet. Die Frau geht fortan ihren eigenen Lebensweg, mit aller Kraft und mit allem Mut, geheilt durch das Erleben der nicht verurteilenden Annahme. Das vermögen wir zu glauben. Heilung – ‚nicht mehr sündigen’ – kann hier bedeuten, durch die Erfahrung des Nicht-verurteilt-worden-Seins selbst nicht mehr zu verurteilen, andere Menschen nicht, und zuvörderst sich selbst nicht mehr. Wir werden aufgefordert zu verstehen statt zu strafen, zu retten statt zu richten. Das bedeutet statt Hinrichtung eine Aufrichtung zum Leben, aufrecht und mutig fortan den eigenen Weg zu gehen. (…)

Keiner von uns ist ohne Sünde, ‚Sünde’ auch im Sinne von Distanz zueinander und damit im Sinne von Entfernung zum eigenen tiefsten Wesen, keiner von uns ist frei von Trugbildern über sich und die Welt. Wenn ‚Sünde’ verstanden wird als Mangel an Liebesfähigkeit, wer von uns ist lebenslang in der Fülle liebesfähig? Uns allen mangelt es immer wieder an Liebesfülle: an Liebe zu uns selbst, an der liebevollen Annahme unseres So-Seins, an der Liebe zu unseren Mitmenschen und der gesamten Schöpfung. Wir alle stehen in der Aufgabe, in der Liebe zu wachsen, jeden Tag. Die in uns noch nicht voll entfaltete Liebesfähigkeit lässt uns hinstreben zu einer Liebe, die immer größer und weiter bleiben und werden wird.

‚Geh. Und von jetzt an sündige nicht mehr.’ Ein Imperativ. Das ist wichtig! Übersieh das nicht! – Sündigen ist ein schwieriges und überfrachtetes Wort. Ich verstehe es im Tiefsten als Gottesferne, als Ferne zum ureigensten und innersten Wesen, als Entfernung zur tiefsten Stimmigkeit, die weiß. Sündigen kann auch bedeuten, sich selbst verlassen zu haben, in Unwissenheit, Unkenntnis, in Verzweiflung zu verharren, sich verirrt zu haben, sich irren. Der Imperativ kann bedeuten: Geh und suche, geh und finde deine tiefste Stimmigkeit! Dir sei treu! Unbedingt! Und vertrauen deinem ursprünglichen Wesen, was auch immer die Menschen von dir verstehen mögen, was auch immer die Buchstaben des Gesetzes sagen mögen. Es ist Gottestiefe in dir, der sei treu und so sei dir treu. Ohne Bedingung!“

 

Durch den Gekreuzigten geschieht Heilung des Bruchs des (Ehe-)Bundes

Die Sünde als Ferne zum Schöpfer, zur „Gottestiefe in dir“, und zum eigenen ursprünglichen Wesen als Mensch („Bild Gottes“) entsteht biblisch-heilsgeschichtlich durch den Bruch des Gottesbundes (im Sündenfall des Ersten Adam), der ein heilige Ehe-Bund mit dem Schöpfer ist. Der Bund Gottes mit Israel als heiliger (und geheiligter) Braut stellt diesen Urbund wieder her, endgültig vollendet und unverbrüchlich wieder aufgerichtet im „neuen und ewigen Bund“ im „Blut“ des wahren Osterlammes Christus am Kreuz: Er, der „für uns“ und unserer Heiligung entehrt, geschunden und durchbohrt wurde, ist das wahre „Bild Gottes … in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,24).

Christus ist das Urbild aller Menschen, damit sie im wahren „Glauben“ wieder der werden, der sie von Gott her sind: „Er ist unser Friede. Er vereinigt die beiden Teile (Juden und Heiden) und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder“ (Eph 2,13f) – auch die Feindschaft zwischen Seele und Körper, dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren, dem Geistigen und dem Sinnlichen (vgl. Gen 3,15).

Papst Benedikt XVI. hat sich in seiner ersten Enzyklika „Deus Caritas est – Gott ist die Liebe“ (2005) gegen eine falsche theologische Entgegensetzung von sinnlichem Eros und geistiger Agape gewandt: „Die Herausforderung durch den Eros (sei vielmehr) dann bestanden“, „wenn Leib und Seele zu innerer Einheit finden“ (Nr. 5). Dieser Einheit mit Gott, untereinander und jedes Menschen mit sich selbst dient die heilige Kirche, wie das Zweite Vatikanische Konzil über in ihrer dogmatischen Konstitution Lumen gentium (Licht der Völker) gleich im ersten Artikel zum „Mysterium der Kirche“ sagt: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament [Mysterium], das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit der ganzen Menschheit.“

Klaus W. Hälbig

 

Hinweis: Anna Schreiber, Körper sucht Seele. Eine Psychotherapeutin blickt zurück auf ihre Zeit als Prostituierte (mit einem Geleitwort von Eugen Drewermann), taotime verlag, Boniswil (Schweiz) 2019.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Elfie Horak (Donnerstag, 11 Juli 2019 20:39)

    Dieser Beitrag erinnert mich an eine 28 jährige Frau, die zu mir in die psychologische Praxis kam. Sie wollte eine Erfahrung besprechen, die sie zu tiefst irritiert hatte. Bisher war Sex für sie: Gemeinsam Spaß haben. Vor diesem Hintergrund hatte sie sich vorgenommen, wenn sie einmal wieder Spaß haben wollte, einen Mann zu erobern und mit nach Hause zu nehmen, genauso wie Männer es gelegentlich tun, so berichtete sie mir. Sie war unabhängig, hatte einen gut bezahlten Job. Sie arbeitete in einem Team mit männlichen Kollegen. Sie verstand sich als gleich. Also warum sollte sie das nicht tun?

    Doch im entscheidenden Moment war es dann andersherum: Er oben und sie unten. Mit diesem anschaulichen Bild wollte sie den Kern verdeutlichen, der ihre bisherige Weltanschauung zum Einsturz gebracht hatte. Sie wollte sich auf einmal nicht mehr gleich, sondern schwach und schutzbedürftig fühlen. Sie sehnte sich geradezu nach Schutz und einer Ummantelung von einem starken Mann, denn das fachte ihr Begehren nach Liebe an, nach Einheit und nach Verschmelzung.

    Genau an dieser Stelle lag der Knoten, den sie noch nicht fassen konnte. Sich Eins fühlen mit einem Fremden, mit dem sie nicht Eins war, wie sollte das gehen? Ein Empfinden hatte sie aufgerüttelt. Setzte nicht der Wunsch nach Verschmelzung eine Bindung voraus, um sie empfinden zu können? Sich auf einen Mann einzulassen, mit dem sie nichts verband, hatte ihr vor Augen geführt, wie unendlich weit sie von der Liebe entfernt war, nach der sie suchte. Das war kein Spaß mehr. Sex machte sie traurig, weil er sie in einen Abgrund von Kälte und Lieblosigkeit schleuderte, ganz nahe an der Grenze zum Tod, dem krassen Gegenteil zu dem himmlischen Erleben, das sie sich erhoffte. Das hatte sie buchstäblich am eigenen Leibe erfahren, und darum kam für sie solcher Art flüchtiger Sex ab jetzt nicht mehr in Frage - aus purem Selbstschutz.

    Doch das machte ihre Situation nicht einfacher. In Wahrheit sehnte sie sich nach einem Mann, dem Einen, nach einer Familie und Kindern. Doch Männer bestanden auf der Idee, dass Sex beiden gleich viel Spaß bringt und dafür eine verbindliche Beziehung nicht nötig ist. Von diesen Männern kannte sie viele, so hatte sie ja bisher auch gedacht.

    Wie sollte sie denn unter den neuen Voraussetzungen überhaupt noch einen Mann finden? Es gab doch genügend Frauen, die in das Suchmuster von Männern passten, genügend jüngere, die noch nicht checkten, dass sie sich damit selbst zerstörten, wie sie früher auch.

    Sie hatte erkannt, dass die Gleichstellung von Mann und Frau in vielen Bereichen gut ist, aber eine Tendenz zur Gleichheit befördert. Wenn beide davon ausgehen, weitgehend gleich zu sein mit gleichen Bedürfnissen, so ist diese Annahme in Bezug auf Partnerschaft und Sex grundlegend falsch und schadet der Frau.

    Diese blitzgescheite und empfindsame Frau steht beispielhaft für unzählige junge Frauen heute, die die gleiche Erfahrung machen. Manche zerbrechen daran. Andere ziehen die Konsequenz, lieber allein zu bleiben. Diese Frau fasste den Mut, zu ihrer neu gewonnenen Erkenntnis zu stehen. Es war für sie wie eine Befreiung, nachdem sie verstanden hatte, dass ihr Sexverhalten früher zu einem Großteil auch daher rührte, einer Norm entsprechen zu wollen.

    Wir verabschiedeten uns, nachdem sie das Vertrauen gefasst hatte, dass es auch noch andere Männer gibt, Männer die die Würde einer Frau nicht antasten und für die Treue auch einen hohen Wert hat. Sie vertraute darauf, mit ihrer neuen Ausstrahlung genau so einen Mann anzuziehen.