Pfingsten: Das Haus in Flammen

Bild: Vor gut fünfhundert Jahren wurde mit dem Bau des dem heiligen Petrus geweihten Hauses (lat. Domus) in Rom begonnen, wenige Jahre später löste die Reformation einen Flächenbrand in der römisch-katholischen Kirche aus. Durch den Missbrauchsskandal ist auch heute wieder Feuer unterm Dach. Kann es durch das Pfingstfeuer des Geistes vom Himmel gelöscht werden?

 

Gegenwärtig brennt es an vielen Ort: Die altehrwürdige Kathedrale Notre-Dame zu Beginn der Karwoche real, die römisch-katholische Kirche durch den Missbrauchsskandal im übertragenen Sinn. Nach der Klimaaktivistin Greta Thunberg steht auch das Haus der Erde „in Flammen“. Mitte Mai traten ehrenamtlich in der Kirche tätige Frauen an zahlreichen Orten mit weißen Tüchern in einen „Kirchenstreik“, um unter anderem gegen den Ausschluss vom Priesteramt zu protestieren.

 

Am Pfingsttag sendet der auferstandene Jesus seinen Geist als Feuer vom Himmel auf die Erde und auf die um Maria versammelten Zwölf Apostel und erfüllt damit „das ganze Haus“ (Apg 2,2f). Mit dem Schöpfungspsalm 104 (Vers 30) bittet die Kirche stets von neuem: „Sende aus deinen Geist, und das Antlitz der (weiblichen) Erde wird neu“ (Gotteslob 645.3), auch der weiblichen Kirche als neue Eva (2 Kor 11,2). Denn der Schöpfergeist schenkt allen Gläubigen seine Gaben oder Charismen (nicht Ämter).

 

Für den Missbrauch werden die „Machtstrukturen der Kirche“, der „Pflichtzölibat“, eine „Priesterherrschaft“ sowie eine seit Jahrhunderten „verteufelte“ und „vergiftete“ Sexualität verantwortlich gemacht. Ausgeblendet wird dabei der Sündenfall (als Grund für die Erlösung der Welt durch Jesu Pascha-Mysterium), die negative Seite der Sexualität (vgl. z. B. Röm 1,19-32) sowie der Zusammenhang von Sexualität (Zeugung/Geburt) und Tod – auch im geistigen Sinn, wonach der Teufel „die Gewalt über den Tod hat“ (Hebr 2,14).

 

 

„Die katholische Kirche steht in Flammen“

„Die katholische Kirche steht in Flammen. Das Entsetzliche daran ist: Hirten, die zum Dienst am Evangelium bestellt wurden, haben diesen Flächenbrand gelegt.“ Der Generalvikar für die Kantone Zürich und Glarus, Josef Annen, und die Züricher Synodalratspräsidentin Franziska Driessen-Reding, schrieben einen am 4. April 2019 in mehreren Zeitungen in Zürich als Inserat veröffentlichten offenen Brandbrief an Papst Franziskus, in dem sie die gegenwärtige Situation mit dem Vorabend der Reformation vor fünfhundert Jahren vergleichen. Allerdings erzeugte Martin Luther damals mit seinen neuen Thesen einen „Flächenbrand, der die Einheit des abendländischen Kirchentums dauerhaft zerstören sollte“ (Thomas Kaufmann).

 

Nun sollen also „tiefgreifende“ Strukturreformen die brennende Kirche retten, nämlich eine Abkehr von der überkommenen Sexualmoral, dem Ausschluss von Frauen vom kirchlichen Weiheamt und vom „Pflichtzölibat“. Denn: „Eine verdrängte und unreife Sexualität ist der Boden, auf dem der Missbrauch gedeiht.“ Eine „lebensnahe kirchliche Sexualmoral“ müsse sich an „der Liebesbotschaft des Evangeliums und an den heutigen Humanwissenschaften“ orientieren. Die göttliche Liebe in Person ist der Heilige Geist, den der Menschheit als Feuer vom Himmel zu bringen das Kernanliegen Jesu ist: „Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes [= den Heiligen Geist] austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen“ (Lk 11,20).

 

Der Dämon des sexuellen Missbrauchs soll hier aber nicht durch den Heiligen Geist ausgetrieben werden, sondern durch Strukturreformen und eine andere Machtverteilung zwischen Klerikern und Laien. Der Brief schließt mit den Worten: „Papst Franziskus, die Zeit des Zuwartens ist abgelaufen. Gemeinsam müssen wir handeln.“ Nicht erwähnt wird, dass sich Papst Franziskus in seinem Schreiben „Amoris laetiti“ (Nr. 251) gegen die „Ehe für alle“ ausgesprochen hat und dagegen, „zwischen den homosexuellen Lebensgemeinschaften und dem Plan Gottes über Ehe und Familie Analogien herzustellen, auch nicht in einem weiteren Sinn“. Und wie seine zwei Vorgänger im Amt hat auch er die Möglichkeit zur Frauenordination in der katholischen Kirche wiederholt definitiv verneint.

 

Nicht erwähnt wird auch, dass sexualisierte Gewalt nicht nur ein Problem der katholischen Kirche ist, sondern auch der anderen Kirchen, des Sports und der Gesellschaft überhaupt. Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, zog in seinem Bilanzbericht 2019 nach dreijähriger Arbeit das Fazit: „Die gesamte Gesellschaft hat versagt.“ Gestützt auf den Kontakt zu 1700 Missbrauchsopfern seit Mai 2016 wurde von der Aufarbeitungskommission vor allem auf das Tabuthema „Kindesmissbrauch in den Familien“ aufmerksam gemacht. Das zentrale Problem sei auch hier „das Schweigen“. Man geht davon aus, dass jedes zehnte Kind in Familien und Einrichtungen wie Schulen, (Sport-)Vereinen und auch Kirchen sexuelle Gewalt erfährt.

 

Welche Sexualmoral hilft gegen den Missbrauch?

Wenn Missbrauch somit ein tabuisiertes gesamtgesellschaftliches Problem ersten Ranges ist, dann können wohl kaum die „Machtstrukturen der Kirche“ (freiwilliger „Pflichtzölibat“, eine „Priesterherrschaft“, „verteufelte“ Sexualität) daran schuld sein. Die Verteufelung der Sexualität „während Jahrhunderten“ (ist das ein Argument für heute?) hat schon Friedrich Nietzsche in einem Aphorismus in „Jenseits von Gut und Böse“ (IV, 168) angeprangert: „Das Christentum gab dem Eros Gift zu trinken – er starb zwar nicht daran, aber entartete und wurde zum Laster.“ Papst Benedikt XVI. hat dieser Diagnose in seiner Enzyklika „Deus Caritas est“ (2005), in der er sich gegen eine falsche theologische Entgegensetzung von sinnlichem Eros und geistiger Agape wandte, mit dem Argument widersprochen, „die Herausforderung durch den Eros (sei) dann bestanden“, „wenn Leib und Seele zu innerer Einheit finden“ (Nr. 5; vgl. auch Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Täterorganisation? Schuld und Strukturen in der Kirche, in: HerKorr 4/2019, 16-17).

 

Der Katechismus der Katholischen Kirche hebt mit Bezug auf ein Wort von Papst Pius XII. hervor: „Die Geschlechtlichkeit ist eine Quelle der Freude und der Lust“ (Nr. 2362). Jesus warnt in der Bergpredigt allerdings auch vor dem „lüsternen Blick“ als Beginn des Ehebruchs im Herzen (Mt 5,27f; vgl. Mt 19,6-9), wie die Bibel insgesamt ja auch die negative Seite der Sexualität nicht verschweigt (vgl. z. B. Lev 18,22; Röm 1,19-32). Die bisherige kirchliche Sexualmoral beruft sich ebenso wie die Strukturreformer ganz auf die biblische Offenbarung.  Dessen heiliger Wille zielt nicht auf eine an die Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts angepasste Sexualmoral, sondern auf die Heiligung des in der Sünde dem Tod verfallenen Menschen.

 

Die Aufdeckung des Missbrauchs in der Kirche wird daher dazu benutzt, die seit Jahrzehnten in bestimmten Kreisen vorangetriebene Agenda jetzt endlich durchzusetzen. Das räumt auch der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff ein, der die kirchliche Sexualmoral durch einen „unüberbrückbaren Abstand zum Lebensgefühl der Moderne“ getrennt sieht: Sie habe „schon lange vor dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals“ einen „Plausibilitätsverlust“ erlitten, weil ihr eine „konstruktive Aneignung der humanwissenschaftlichen Einsichten noch nicht gelungen“ sei. Schuld daran sei vor allem ein durch Augustinus „vergiftetes Bild der Sexualität“, in dessen „Schatten“ der „Triebcharakter des Eros nicht vorbehaltlos als ein positiver Ausdruck menschlicher Körperlichkeit und Lebenslust gewürdigt“ werde. Nach wie vor wirksam sei „die negative Bewertung der sexuellen Lust und die Unfähigkeit, diese als eine Quelle menschlicher Daseinsfreude und Lebenslust positiv zu würdigen“ (Christ sein und die Sexualität (1), in: Christ in der Gegenwart 12/2019, 129f; der Artikel geht zurück auf seinen Vortrag beim Studientag der Frühjahrs-Vollversammlung der DBK am 13. März 2019 in Lingen).

 

Der Beitrag von Schockenhoff wird in „Christ in der Gegenwart“ illustriert durch die byzantinisch beeinflusste Mosaik-Darstellung der Paradieserzählung im Dom von Monreale (südlich von Palermo, Ende 12. Jh.), wo der Schöpfer (Christus) die nackte Eva dem nackten Adam als Braut zuführt. Die Bildzeile dazu sagt: „Der Mensch hat nicht nur einen Leib, er ist Leib. Er hat nicht nur Sexualität, er ist Sexualität.“

 

In der Tat wird der Mensch aus Liebe für die Liebe erschaffen. Aber die paradiesische Nacktheit ohne „Scham“ (Gen 2,25) ist die der vollkommenen Triebherrschaft („Tierherrschaft“) oder Selbstbeherrschung als Frucht der Gnade des Heiligen Geistes (Gal 5,23), nicht die Nacktheit jenseits des Gottesgartens, die notdürftig mit Feigenblättern geschürzt (Gen 3,7) und dann durch ein animalisches Fellgewand bekleidet wird (Gen 3,21). Mit diesem  „Fellkleid“ als Zeichen ihrer tierähnlichen Sterblichkeit werden die Stammeltern aus dem Gottesgarten vertrieben, während die heiligen Engel mit dem Flammenschwert den Zugang zum „Baum des (ewigen) Lebens“ bewachen (Gen 3,24). Im Paradies als Urbild des Tempels und damit Sinnbild der geistigen Berufung des Menschen war er noch gottähnlich (engelgleich) und deshalb über die Welt der Tiere (= Triebe) herrschend (Gen 2,19f; 1,28).

 

Der Mensch zwischen Tier und Engel

Nach Ephräm dem Syrer stieß der Sündenfall Adam „von seiner königlichen Wohnung fort zum Wohnort der Tiere. Weil er sich durch ein Tier verführen ließ, machte (Gott) ihn den Tieren gleich“ (vgl. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Triebverzicht oder Liebe?, in: Die Tagespost, 18. April 2019, 40). Vor der Liturgiereform (1969) betete der Priester beim Anlegen der Stola als pars pro toto für sein ganzes Priesterkleid: „Gib mir, o Herr, das Gewand der Unsterblichkeit, das ich in der Abwendung der ersten Eltern verlor, und obwohl ich unwürdig zu deinem heiligen Mysterium hinzutrete, möge ich dennoch die ewige Freude erlangen.“

 

Die Nacktheit im heiligen Paradies meint nicht sterblich-animalische Nacktheit, sondern ein Überkleidetsein mit der göttlichen Herrlichkeit (Doxa), wie sie Christus mit seiner Auferstehung als Lichtkleid wieder zugänglich macht, „damit so das Sterbliche vom Leben verschlungen werde“ (2 Kor 5,4), „bekleidet mit Unvergänglichkeit“ (1 Kor 15,54): „Im gegenwärtigen Zustand seufzen wir und sehnen uns danach, mit dem himmlischen Haus überkleidet zu werden. So bekleidet, werden wir nicht nackt erscheinen“ (2 Kor 5,2f). „Christus, der neue Adam, … erschließt ihm (dem Menschen) seine höchste Berufung“ (Gaudium et spes 22). Diese besteht darin, durch die Gnade heilig, gottähnlich oder vergöttlicht zu werden.

 

Wenn die Kirche mit Christus das Licht der einen Wahrheit des Menschen als „Bild Gottes“ verkündet, das Bekleidetsein mit dem „Hochzeitsgewand der Liebe“ (Caterina von Siena) als Sinnbild des göttlichen Willens, kann sich die kirchliche Moral dann mit den jeweils geltenden Humanwissenschaften davon dispensieren und den Willen Gottes gleichsam der jeweils aktuellen Kleidermode subjektiv unterwerfen? Der Philosoph Josef Pieper schrieb schon 1935: „Die Trägheit als Haupt-Sünde ist der freudlose und verdrießliche, borniert selbstsüchtige Verzicht des Menschen auf den verpflichtenden Adel der Gotteskindschaft“ (Über die Hoffnung, 59, vgl. 53).

 

Die Trägheit oder acedia als Mangel an Hochgemutheit „ist eine pervertierte Demut“. Nach Kardinal Walter Kasper besteht der Hauptgrund für die mangelnde Strahlkraft des christlichen Glaubens gerade in einer „Trägheit des Herzens“ (acedia): eine „Schwunglosigkeit nach oben, die zu einer Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit in geistlichen Dingen führt“. „Die acedia ist unser Grundproblem geworden“ (Evangelium der Freude, in: George Augustin [Hg.], Die Strahlkraft des Glaubens, 2016, 12-14).

 

Nach Blaise Pascal (Pensées, 164/131; vgl. 149/117) geht aus der Bibel „klar hervor, dass der Mensch durch die Gnade gleichsam Gott ähnlich gemacht und seiner Göttlichkeit teilhaftig ist, und dass er ohne die Gnade als den wilden Tieren ähnlich gilt“. Die Getauften, die von Gott „aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen“ sind (1 Petr 2,9), sind aber nicht mehr „nach dem Bild des Irdischen gestaltet“ (des gefallenen sterblichen Adam), sondern „nach dem Bild des Himmlischen“: des österlich auferstandenen neuen Adam Christus (1 Kor 15,44-49).

 

Eine Analogie zum weißen Taufkleid ist jenes „erste Gewand“, das der verlorene Sohn bei seiner Heimkehr zum Vater als Zeichen seiner wiedererlangten ursprünglichen Würde zurückerhält (Lk 15,22). Die Einheitsübersetzung von 2016 übersetzt immer noch „bestes Gewand“, wörtlich aber heißt es „erstes Gewand“: Das verstanden die Kirchenvater als Hinweis auf „das Gewand, in dem Adam geschaffen wurde und das er verlor durch den Griff nach der Gottgleichheit. Alle Gewänder, die der Mensch seither tragt, sind nur armseliger Ersatz für das von innen kommende Licht Gottes, das sein wahres ‚Gewand‘ war“ (Benedikt XVI., Theologie der Liturgie, GS Bd.11, ²2008, 185). Papst Benedikt XVI. sagte in seiner Predigt in der Osternacht am 4. April 2010 in Rom, in der Taufe als Prozess des „Umkleidetwerdens“, der „sich das Leben hindurch erstreckt“, ziehe der Mensch das alte „Kleid des Todes“ aus und das neue „Kleid des Lebens“ an, „so dass wir im Lichtgewand Jesu Christi vor das Antlitz Gottes treten und mit ihm für immer leben können“.

 

Der gefallene Mensch im Zeichen des phallischen Archetyps

Der Sohn, der das Haus seines Vaters verlassen und dessen Vermögen „mit Dirnen durchgebracht“ (Lk 15,30) hat, „war tot“ (V.24.32). Den Zusammenhang von Sexualität (Zeugung/Geburt) und Tod, auch im geistigen Sinn, wonach der Teufel „die Gewalt über den Tod hat“ (Hebr 2,14), ist heute im Allgemeinen verdrängt, auch in der Theologie.

 

Anders der amerikanische Kulturanthropologe Ernest Becker, für den „Sex und Tod“ wie „Zwillinge“ sind: „Sex hat etwas Animalisches. Er erinnert uns daran, dass wir Tiere sind. Und Tiere sterben. Also macht der Sex uns bewusst, dass auch wir sterben werden. Außerdem dient Sex der Fortpflanzung. (…) Auch das ruft uns unsere Vergänglichkeit ins Bewusstsein“; in der Bewusstwerdung der eigenen Sterblichkeit habe Becker geradezu den „Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte“ gesehen (vgl. das „Spiegel“-Interview mit dem Psychologen Sheldon Salomon Zuflucht in der Schönheit Nr. 25/2016, 107-109, hier 109).

 

Dem Judaisten und Psychologen Gabriel Strenger (Jerusalem) zufolge lebt der Mensch nach dem Sündenfall „ganz im Zeichen des phallischen Archetyps“ und stellt „Sexualität, Macht und Erfolg über alles“: „Die Lüsternheit (Ta‘awa) macht die Lust zum Selbstzweck, zum Götzen. Ta‘awa ist die Eigenschaft des ‚Baumes der Erkenntnis‘, der den Menschen aus der paradiesischen Ganzheitlichkeit reißt (vgl. 1. Buch Mose 3,6) und ihn gierig, unersättlich macht“; er wird ein „Sklave seiner Lust“ (Jüdische Spiritualität in der Tora und den jüdischen Feiertagen, 2016, 55).

 

In Gen 3,6 steht im hebräischen Text „lüstern“ (ta‘awa) für den Blick des Menschen auf den „Baum der Erkenntnis“, wobei „erkennen“ auch für „zeugen“ steht (vgl. Gen 4,1). Die  ‚Lüsternheit‘ (Geilheit) wird als ‚Götzendienst‘ (awoda sara) verstanden, das heißt als „Dienst am Äußeren“ (vgl. 25; 208; 294; auch Mt 5,28: der lüsterne Blick). Sexsucht und Sex-Vergötzung sind ha nicht erst heute weit verbreitet. Strenger hält fest; „Eros ohne Nomos führt zur Lüsternheit, zu einem triebhaften Verlorengehen, während Nomos ohne Eros die Religion zu einer sinnentleerten Pflichtübung verkommen lässt“ (379).

 

Christlich tritt an die Stelle des Gesetzes (Nomos) der lebendige Christus, der in seine Kreuzesnachfolge ruft. Denn erst sie ermöglicht eine christlich-sakramentale, österliche Existenz, erlöst von der „Ursünde“ (Erbsünde) des gefallenen Adam in der „Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes“ (Röm 5,2), befreit „zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21). Sie hört den „Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute“, den Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben „Gaudete et exsultate“ (Freut Euch und jubelt) im letzten Jahr so nachdrücklich wieder in Erinnerung gerufen hat. Das ist das Gegenteil zu einer Selbstsäkularisierung der Kirche, wo der Unterschied zwischen heilig und profan, geistlich und weltlich keine Rolle mehr spielt, wo die Kirche irrelevant wird, indem man „das Aufgehen in der Welt als den wahren Dienst Jesus Christi“ auslegt (Joseph Ratzinger).

 

„Nur noch elf Jahre“ bis zur Klimakatastrophe

Das „Haus in Flammen“ ist auch das von der 16-jährigen Ikone der internationalen Klimaschutzbewegung, Greta Thunberg, wiederholt der Weltöffentlichkeit präsentierte Bild, so auch beim internationalen Weltwirtschaftsforum im Januar 2019 in Davos, wo sie die Weltelite aus Wirtschaft und Politik aufrief: „Ich will, dass ihr handelt, als wenn euer Haus brennt, denn das tut es.“ „Ich will nicht, dass ihr voller Hoffnung seid. Ich will, dass ihr in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre.“ „Beim Klimawandel müssen wir anerkennen, dass wir versagt haben.“

 

Bei der Filmgala der Goldenen Kamera am 30. März 2019 in Berlin sagte die „umjubelte Klimaprophetin der neuen Klimareligion“ (Johannes Röser), wir seien „nur noch elf Jahre“ entfernt „vom Auslösen einer unumkehrbaren Kettenreaktion, die sich menschlicher Kontrolle entzieht und die wohl das Ende unserer Zivilisation bedeuten dürfte“. „Wir stehen jetzt an einem Scheideweg unserer Geschichte. Wir sind dabei zu versagen, aber noch haben wir nicht versagt. Wir können es noch schaffen, es gibt noch Zeit.“ „Ihr könnt dabei helfen, unsere Verantwortlichen, unsere Machthaber wach zu rütteln, sie wissen zu lassen, dass unser Haus in Flammen steht.“

 

Die Klimaaktivistin, die für die Kernkraft eintritt und auf eigenen Wunsch auch mit Papst Franziskus reden konnte, kennt nur Schwarz oder Weiß; leidet sie doch an einer milden Form von Autismus, dem Asperger-Syndrom, was sie aber als eine Stärke empfindet. Ihre ultimative Warnung vor der globalen Klimakrise: „Wir Kinder werden alle den Hitzetod sterben, wenn alte weiße Männer weiter Diesel fahren und mit Kohle heizen.“ Rettung erhofft sich Greta und ihre Familie aber weniger von den wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Technokraten, als „von den Künstlerseelen, den Asketen, den Neurasthenikern und den unschuldigen Kindern“ (Iris Radisch, Krank ist das neue Gesund, in: Die Zeit Nr. 18 vom 25. April 2019, 41).

 

Noch elf Jahre bis zum 2000-Jahr-Jubiläum der Welterlösung

Zum radikalen Umdenken im globalen Maßstab ruft auch Jesus bei seinem ersten öffentlichen Auftritt aus, aber nicht, weil der Weltuntergang droht, sondern weil das „Reich Gottes nahe“ ist (Mk 1,15). Das lässt nun allerdings, so scheint es, schon seit bald 2000 Jahren auf sich warten – in elf Jahren (2030) feiert die Christenheit das 2000-Jahr-Jubiläum der Welterlösung in Christus. Aber hat sich seitdem irgendetwas zum Besseren geändert?

 

Berühmt ist das Wort des französischen Priesters und Bibelwissenschaftlers Alfred Loisy (1857–1940), der von der im protestantischen Raum entwickelten historisch-kritischen Methode der Bibelauslegung herkommend im Modernismusstreit 1908 exkommuniziert wurde: „Jesus hat das Reich Gottes verkündet; gekommen ist die Kirche (Jésus annonçait le royaume, et c'est l'Église qui est venue – L'évangile et l'église, 1902). Loisy hat diese Aussage keineswegs abwertend verstanden, sondern durchaus positiv. In seinem naiven Wissenschaftsglauben hatte er versucht, die Kirche angesichts des modernen wissenschaftlichen Weltbildes durch Preisgabe der christlichen Glaubensgrundsätze zu „retten“. Er selbst glaubte nicht mehr an die Göttlichkeit Jesu, und die Fleischwerdung des Schöpferwortes in Jesus war für ihn nicht mehr als ein „philosophischer Mythos“.

 

Wenige Jahrzehnte zuvor machte sich Nietzsche über die wenig erlöst aussehenden Christen seiner Zeit lustig: „Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten mir seine Jünger aussehen!“ (Zarathustra II: Von den Priestern). Den von Priestern erbauten Kirchen als „süßduftenden Höhlen“ stellt er den „reinen Himmel“ gegenüber: „Und erst wenn der reine Himmel wieder durch zerbrochene Decken blickt, und hinab auf Gras und roten Mohn an zerbrochenen Mauern – will ich den Stätten dieses Gottes wieder mein Herz zuwenden.“ „Selbst Kirchen und Gottes-Gräber liebe ich, wenn der Himmel erst reinen Auges durch ihre zerbrochenen Decken blickt; gern sitze ich gleich Gras und rotem Mohne auf zerbrochenen Kirchen …“ (Zarathustra IV: Die sieben Siegel, 2).

 

In der Tat: Wo Gott tot ist, da sind die Gottes-Häuser eben nur noch Gottes-Gräber und finstere Höhlen (vgl. Platons „Höhlen“-Gleichnis), aus denen man sich nach dem Licht des reinen Himmels sehnt; da wird das äußere Aussehen zum Kriterium der inneren Unerlöstheit. Schon jüdische Polemik verwies angesichts der christlichen Botschaft vom Gekommensein des Messias auf die weiterhin bestehende Unerlöstheit der Welt. Was für ihr tatsächliches Erlöstsein spricht, ist ausgerechnet die eine, heilige, katholische (universale) und apostolische Kirche, nämlich nicht als Menschenwerk, sondern als Bauwerk des Geistes.

 

Der Heilige Geist erbaut das Haus der Kirche

Dies hat wiederum Nietzsche hellsichtig erkannt. In seinem Aphorismus zur Reformation unter dem Titel „Bauernaufstand des Geistes“ (in: Die Fröhliche Wissenschaft, n. 358) wirf er Martin Luther vor, den Begriff Kirche zerstört zu haben: „Denn nur unter der Voraussetzung, dass der inspirierende Geist, der die Kirche gegründet hat, in ihr noch lebe, noch baue, noch fortfahre, sein Haus zu bauen, behält der Begriff Kirche Kraft.“ Luther aber habe diesem Umstand nicht wirklich Rechnung getragen, sonder den Glauben an die Inspiration der kirchlichen Konzilien weggeworfen und die inspirierten biblischen Bücher an jedermann – und damit an die Philologen als kritischen „Zerstörern“ des auf Büchern beruhenden Glaubens – „ausgeliefert“.

 

Im Alten Testament ist die „qahal Israel“ die heilige Versammlung des Herrn, die Gottes Reinheit entsprechen muss (Dtn 23,2-9): „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig“ (Lev 19,2). Ebenso fordert Jesus in der Bergpredigt von seinen Jüngern: „Ihr sollt vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist“ (Mt 5,48). Die Kirche ist die endzeitliche Gemeinschaft der Heiligen – und der Sünder: „Für die anständigen Leute reicht die anglikanische Kirche“, so ironisch der zuletzt zum katholischen Glauben konvertierte irische Schriftsteller Oscar Wilde (1854–1900). In der von Gesetzeseiferern zur Steinigung frei gegebenen Ehebrecherin sahen die Kirchenväter auch ein Bild der Kirche als sündige „Hure“. Der sündlose Jesus verurteilt sie aber nicht, denn er ist gekommen, das Verlorene zu retten, ohne deshalb freilich die (sexuelle) Sünde zu verharmlosen (Joh 8,1-11).

 

„Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, die Gott gefallen“ (1 Petr 2,5; vgl. Ex 19,5f). Wie Israel ist auch die Kirche ein priesterliches Gottesvolk, gereinigt und geheiligt durch das „Feuer“ des Heiligen Geistes in der Taufe (Lk 3,16), befähigt zur inneren Mitfeier (participatio actuosa) der kosmischen Liturgie der Eucharistie. Denn wer getauft und mit dem heiligen Chrisam gesalbt ist, ist „ein durch den Heiligen Geist ‚Gesalbter’, eingegliedert in Christus, der zum Priester, Propheten und König gesalbt ist“, so der Weltkatechismus (Nr. 1241). Und im Abschnitt „Die Kirche – Tempel des Heiligen Geistes“ wird Augustinus zitiert: „Was unser Geist, der heißt unsere Seele, für unsere Glieder ist, das ist der Heilige Geist für die Glieder Christi, für den Leib Christi, die Kirche“, nämlich ihre Seele als unsichtbares Lebensprinzip: „Der Heilige Geist macht die Kirche zum ‚Tempel des lebendigen Gottes’ (2 Kor 6,16)“ (Nr. 797; vgl. 798).

 

Christus ist zwar der Schlussstein des Hauses und auch der Grundstein, ebenso die zwölf Apostel im Hinblick auf das neue Jerusalem vom Himmel (Offb 21,14). Zum Fundament gehören aber notwendigerweise auch die alttestamentlichen Propheten (Eph 2,20). Die universale Kirche wird von oben her gebaut und zugleich von unten: Als „Ekklesia ab Abel“ umfasst sie die ganze Menschheit vom ersten ermordeten Gerechten und Glaubenden (Hebr 11,4), ja „alle Gerechten von Adam an … bis zum letzten Erwählten“, wie die Kirchenkonstitution des II. Vaticanums sagt (LG 2). „Die Kirche, das heißt das im Mysterium schon gegenwärtige Reich Gottes, wächst durch die Kraft Gottes sichtbar in der Welt“ (LG 3).

 

Die Kirche als kosmisches Haus der erlösten Freiheit

‚Im Mysterium’ heißt – für die erleuchteten Augen des Glaubens, nicht für die Augen des Unglaubens, die am bloß Äußeren und Sichtbaren haften. Erwählt zur Teilhabe am Bund mit Gott sind im Grunde seit Menschengedenken alle Vernunft- und Geistwesen. Aber nur Israel hat die von Gott gewollte Antwort des Glaubens gegeben, vollendet im gläubigen Ja-Wort der Jungfrau und Gottesmutter Maria als „Tochter Zion“ und Urbild der Kirche.

 

Wie Israel Zeichen des Heils für die Völker sein sollte, so ist auch die (marianische) Kirche „in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen gentium 1). Nicht mehr die äußere Reinheit oder Wohlgeratenheit ist jetzt das entscheidende Kriterium der Zugehörigkeit zum Gottesbund, sondern der das Gewissen reinigende Glaube an Christus, den Gekreuzigten, als Stifter des neuen und ewigen Bundes in seinem Blut (Mt 26,28; 1 Petr 1,19; 3,21).

 

Jesus kritisiert die jüdischen Schriftgelehrten und Pharisäer scharf als „Söhne der Prophetenmörder“ und „Schlangenbrut“, als außen weiß angestrichene Gräber, die „schön aussehen, innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung. So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voller Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz“ (Mt 23,27-32). An „Gottes Gesetz“ (dem Willen Gottes) werden aber keinerlei Abstriche gemacht: Nicht der kleinste Buchstabe wird „vergehen, bevor nicht alles geschehen ist“, was Gott in seinem Gesetz verheißen hat (Mt 5,18).

 

Mit dem Kommen des Messias wird das Gesetz ganz erfüllt, aber auch neu interpretiert, nämlich auf seinen eigentlich gemeinten geistigen Sinn hin, der – „wenn Mose vorgelesen wird“ – noch vom körperlichen „Buchstaben“ verhüllt ist: „Sobald sich aber einer dem Herrn zuwendet, wird die Hülle entfernt. Der Herr aber ist der Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“ (2 Kor 3,15-17). Haus der erlösten Freiheit ist die Kirche im Tun der barmherzigen Liebe als Erfüllung des Gesetzes (Röm 13,10). Die Barmherzigkeit steht dabei in der Mitte zwischen Gnade und Gerechtigkeit. Dieses Haus der Kirche hat kosmische Dimensionen, weil Christus durch sein Blut am Kreuz Himmel und Erde, das Unsichtbare und das Sichtbare versöhnt hat (Kol 1,16.20; Eph 1,23).

 

Nach Rabbi Azriel von Gerona (1160–1238) ist der Messias „der ursprünglich vom Schöpfer intendierte Mensch, der Adam redivivus, der wiederhergestellte Mensch, dem nunmehr kosmische Dimensionen eignen“: „Er hat die Qualitäten wiedererlangt, die dem Adam beim Sündenfall verloren gingen und damit nicht nur ihm, sondern der gesamten Welt, die seit dem Fall von den Gegensätzen beherrscht wird. Und so wie der ehemalige Verlust dieser Qualitäten kosmische Folgen und kosmische Dimensionen hat, so wird es auch mit deren Wiedergewinnung durch den Messias sein.“ Die bleibende menschliche Aufgabe, nach der „Zerspaltung des einen menschlichen Willens“ im Sündenfall durch Angleichung an Gottes Willen „die verlorene Einheit wiederzugewinnen und dadurch aus der Herrschaft der Gegensätze herauszuführen“, wird von ihm vollkommen erfüllt (vgl. Karl Erich Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 2, 2005, 279; 283; 286f).

 

Schon der Humanist und christliche Kabbalist Johannes Reuchlin nimmt Azriels Messiaslehre wegen ihrer Nähe zur christlichen Messiasvorstellung dankbar in sein Werk De arte cabbalistica auf (ebd. 284). Azriels Erlösungskonzeption ähnelt der des Maximus Confessor (580–662), wo die Heiligung durch die fünf Vermittlungen von fünf fundamentalen Gegensätzen realisiert wird, grundlegend der Gegensatz zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen: „When the Apostle [Paulus] says that in Jesus Christ there is ‚neither male nor female‘ [Gal 3,28], this means that He has conquered the passions and subordinated the forces of man under the logos of his nature – and that is exactly a true mediation between the sexes” (Lars Thunberg, Man and the cosmos. The vision of Saint Maximus the Confessor, New York 1985, 82).

 

Das Papsttum als Fundament der Einheit der Kirche

In der von Michelangelo geschaffenen Kuppel des Petersdoms in Rom, der Grab- und Gedenkstätte des heiligen Petrus als erstem der Apostel und Grundlage des Papsttums, finden sich an der Wand im Übergang von der Vierung zur Rundung der Kuppel in zwei Meter hohen Lettern die Worte Jesu an seinen Ersterwählten: „Du bist Petrus, der Fels, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“ (Mt 16,18). Im Hebräischen hat der Sohn (ben) mit dem Bauen zu tun, wie Friedrich Weinreb hervorhebt: „Das Wort ‚ben’ ist auch Stamm des Begriffs ‚boneh’, bauen. Gebaut wird der Weg und gebaut wird das Haus. Es ist ein Wachsen.“ „Im Erzählen baut sich gleichsam der Tempel selbst“ (Wunder der Zeichen – Wunder der Sprache, ²1999, 55; 116).

 

Der Grundstein für den Bau der Welt ist im rabbinischen Judentum der Ewen Schethi-jah, der im Innersten des Allerheiligsten des Tempels (als Bild des geistigen Kosmos) vor der Bundeslade liegt: „sozusagen der ‚Nabel‘ der Welt, die erste Grundlage… die Verbindung zu Gott, dem Ursprung von allem“ (Friedrich Weinreb, Schöpfung im Wort, ³2012, 185). Der Stein, ewen, 1-2-50, „kann als Zusammenziehung von ‚aw‘, 1-2, und ‚ben‘, 2-50, gesehen werden, von Vater und Sohn also, wodurch die Generationen aufgehoben werden“ (Ders., Der Weg durch den Tempel, 2000, 426).

 

Das Wort Schethi-jah besteht aus dem vorletzten und letzten Buchstaben Schin und Taw sowie der Kurzform des Gottesnamens JHWH. Das mit drei züngelnden Feuerflammen gebildete Schin (ש) mit dem Zahlenwert 300 steht für das Feuer des Heiligen Geistes (Ruach Elohim, 200-6-8 1-30-5-10-40, hat in der Summe den Zahlenwert 300; vgl. Gen 1,2) beziehungsweise für die unsichtbare Innenwelt. Das im ersten christlichen Jahrhundert noch kreuzförmig geschriebene Taw mit dem Zahlenwert 400 (vgl. Gen 15,13) steht für die materielle Erscheinungswelt, die ohne den lebendig machenden Geist eine Todeswelt ist: „Der Geist macht lebendig, das Fleisch nützt nichts“ (Joh 6,63).

 

Die sakramentale Verbindung beider Welten im Gottesnamen JHWH (= 10-5-6-5), der die beiden Seiten der Gottesliebe und der Nächstenliebe in den Zehn Geboten (5 + 5) in sich vereint, ist der ursprüngliche Sinn der Schöpfung „im Anfang“ (hebr. bereschith) als „Bund des Feuers“ (hebr. berith-esch). Mit dem Bau der petrinischen Kirche auf dem „Felsen“ oder Grundstein wird dieser Bund wiederhergestellt. Wenn der himmlische Sohn Gottes in der Kraft des Heiligen Geistes irdisches Fleisch annimmt, dann baut er damit zugleich die sakramentale Kirche als seinen mystischen Leib oder als Tempel-Heiligtum des Geistes, vollendet in seinem den Tod überwindenden Auferstehungsleib, erbaut am österlichen „dritten Tag“ (Joh 2,19-22).

 

Deshalb werden die „Mächte der Unterwelt“ oder des Todes die Kirche nicht überwältigen, weil sie auf dem österlichen Glaubensbekenntnis gegründet ist, dass Petrus (= der Fels) in der Kraft des Geistes spricht, nicht als „Fleisch und Blut“ (Mt 16,17f). Der Auferstandene, der „die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt“ hat (Offb 1,18), kann Petrus als seinem Stellvertreter auf Erden die göttliche Vollmacht der Schlüsselgewalt über den Himmel geben, Sünden zu lösen oder nicht zu lösen (Mt 16,19; Joh 20,23). Der Gebrauch dieser Vollmacht ist für die Kirche essentiell: Sie ist nicht abzugeben, sondern wie jede Macht einzuüben.

 

Die Hybris des gottlosen Bauens der Welt

Die Sünde des Unglaubens führt dazu, in der äußeren Materie eine Welt ohne Gott zu bauen wie beim Turmbau zu Babel: „Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel, und machen wir uns einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen“ (Gen 11,4). Ein solcher auf dem vermessenen Geist der Hybris gegründete Weltbau einer geist-losen Uniformität und Gleichförmigkeit, Monotonie und Sinnlosigkeit kann nur in der Zerstreuung, der Zerstörung der ‚einen’ Sprache, im Chaos und im Feuer des göttlichen Gerichts enden (1 Kor 3,10-15). Gott „zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen“ (Lk 1,51f).  

 

Wenn die Welt  ihre eigene Ehre sucht und nicht dem Schöpfer die ihm gebührende Ehre gibt, dann führt diese Selbsterhöhung zur Selbsterniedrigung und in den Abgrund. Das hat erneut Nietzsche gesehen. In seiner Streitschrift „Zur Genealogie der Moral“ (1887) in der dritten Abhandlung (Was bedeuten asketische Ideale, 9) schreibt er: „Hybris ist heute unsere ganze Stellung zur Natur, unsere Natur-Vergewaltigung mit Hilfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker-und Ingenieur-Erfindsamkeit; Hybris ist unsere Stellung zu Gott …, Hybris ist unsere Stellung zu uns, denn wir experimentieren mit uns, wie wir es uns mit keinem Tier erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf: was liegt noch am ‚Heil’ der Seele!“

 

Diese auf Natur-Beherrschung und Naturausbeutung, ja Selbstausbeutung ausgerichtete Hybris lässt die Erde am Ende kollabieren, lässt ihr keinerlei Raum mehr zum Atmen. Denn im Gegensatz zum „Feueratem Gottes“, dem Heiligen Geist, der „in Hitze Kühlung“ zuhaucht und „in der Unrast“ Ruhe schenkt (GL 344.4), hetzt der getriebene Mensch von heute gleichsam atemlos und überhitzt durch die Nacht der Gottesferne, die schon der Brudermörder und erste Städtebauer Kain (= der äußere Mensch) erlebt: „rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein“ (Gen 4,14).

 

Der Verlust des Gleichgewichts von Gebet und Arbeit

Die Kathedralen der Moderne sind die „Laboratorien“ (Ernst Bloch), nicht die Oratorien. Das benediktinische ora et labora mit dem Vorrang des Gebets und der Gottesverherrlichung vor dem eigenen Arbeiten und Bauen der Welt ist in der Neuzeit aus dem maßvollen Gleichgewicht geraten. Die Heiligung des arbeitsfreien Sonntags zählt nicht mehr, die Maschinen sollen möglichst profitabel durchgehend laufen – und der Arbeiter und Konsument mit ihnen. Joseph Ratzinger hat als Erzbischof von München deshalb die Bedeutung des religiösen Kultes und des Sabbats (christlich des Sonntags) für die Erhaltung der Schöpfung in Erinnerung gerufen:

 

„’Operi Dei nihil praeponatur’ – dem Werk Gottes soll nichts vorgezogen werden. Dieser Satz [aus der Regel des heiligen Benedikt] ist der wahre Erhaltungssatz der Schöpfung gegen die falsche Anbetung des Fortschritts, gegen die Anbetung der Veränderung, die den Menschen zertritt, und gegen die Verlästerung des Menschen, die gleichfalls die Welt und die Schöpfung zerstört und vor ihrem Ziel abhält. Der Schöpfer allein ist der wahre Erlöser des Menschen, und nur wenn wir dem Schöpfer trauen, sind wir auf dem Weg der Erlösung der Welt, des Menschen und der Dinge“ (Im Anfang schuf Gott, 1986, 35).

 

Der siebte Tag der Schöpfung oder Sabbat als „Zusammenfassung der Thora“ (ebd. 29) ist der Tag des kultischen Gottesdienstes Israels, das darauf vertraut, dass Gott die Schöpfung als sein Heiligtum gebaut hat, dem er selbst ein- und beiwohnen will, um bei den Menschen zu sein: „Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein“ (Offb 21,3). Wenn der Ewige mit den Menschen im himmlischen Jerusalem zusammenwohnt, dann ist alle Mühsal und Trauer vergangen, denn: „Der Tod wird nicht mehr sein“ (V.4).

 

Alle Selbsterhöhung und Selbstermächtigung des Menschen zielt demgegenüber letztlich darauf, durch medizinischen Fortschritt und naturwissenschaftlich-technologische Ingenieur-Erfindsamkeit den Tod zu beseitigen oder doch das Leben bis zu einer gewissen Unsterblichkeit auf Erden zu verlängern, und sei es die Unsterblichkeit eines ‚großen Namens’ (s. o.). Aber die Selbsterlösung als geheimes Projekt der Moderne zielt nicht auf die wirkliche Vervollkommnung des Menschen in der Heiligkeit der Liebe und Einheit des zerspaltenen Willens. Sie kann deshalb nur scheitern und die Erde mit in den Abgrund des (Klima-)Todes reißen: „Wir Kinder werden alle den Hitzetod sterben …“

 

Zur Anheizung des Konsums in der materiell völlig übersättigten westlichen Welt wird immer wieder der heilige Sonntag zu einem „verkaufsoffenen“ profanen Tag, was von den Konsumenten auch bereitwillig angenommen wird; besteht für viele doch im unaufhörlichen Konsumieren der Sinn ihres Lebens: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“ (Jes 22,13; 1 Kor 15,32). Würde weltweit der Konsum bei gleichzeitigem Wegwerfen noch brauchbarer Nahrung auf das Niveau der westlichen Welt gehoben, dann wären die Ressourcen der Erde noch schneller verbraucht als angesichts der drohenden Klimakatastrophe: Jeweils bereits zur Jahreshälfte lebt die Menschheit auf „Öko-Pump“.

 

Das Programm der Abschaffung des siebten Tages

Alle Konsumaskese und Selbstbeschränkung bei materiellen Gütern auf ein für das ökologische Gleichgewicht zuträgliches Maß wird aber nichts fruchten, wenn nicht gleichzeitig eine Rückbesinnung auf die immateriellen Werte stattfindet. Der eigentliche Fortschritt wäre, wieder die religiöse Dimension des Menschseins und der Welt als Schöpfung Gottes anzuerkennen und sich nicht im bloßen Diesseits buchstäblich zu verbeißen (vgl. den Dokumentarfilm „We Feed the World“ von Erwin Wagenhofer aus dem Jahr 2005).

 

Karl Lehmann schrieb in einem Beitrag zur Theologie und Kultur des Sonntags: „Der Sonntag ist immer eine Vision der neuen Schöpfung und so eng verbunden mit der Hoffnung auf die Auferstehung und das Ewige Leben. Deshalb ist der Sonntag auch Aufbruch in den Anfang einer neuen Woche (vgl. Joh 20,19.26 und Apg 10,41) und nicht nur der siebte Tag als Ende der Woche, wie die Zeitrechnung heute nahe legt“ (RU-heute, Bistum Mainz, 3/2015: Sonntag: Tag des Herrn – Tag für den Menschen, bes. 4-7, hier 6).

 

Johannes Paul II. warb in seinem Apostolischen Schreiben Dies Domini (1998) eindringlich für eine Wiederentdeckung der Heiligung des Sonntags. Darin wird der „Herrentag“ bezeichnet als „Tag der Freude“ (55), „Tag der Sonne“ (27), „Tag des ‚Feuers‘“(28) und „Tag der christlichen Hoffnung“ (38), das heißt des „brennenden Verlangens“ des Geistes und der Braut nach der „herrlichen Wiederkehr“ des himmlischen Bräutigams (85).

 

Biblisch ist die Zahl des Diesseits die Sechs (lat. sex): Am „sechsten Tag“ wird der Mensch zusammen mit den Erd- oder Landtieren erschaffen (Gen 1,14-29). Der Auftrag, sich die Erde untertan zu machen und über die Tiere zu herrschen (V. 28), ist nicht von der Außenwelt zu verstehen, sondern von der unbewussten Triebwelt, die in der Tierwelt symbolisiert ist. Der Mensch ist biblisch dazu berufen, „die Welt in Heiligkeit und Gerechtigkeit (zu) leiten und Gericht (zu) halten in rechter Gesinnung“ (Weish 9,3), nicht als Bauer oder Landwirt, sondern als königlicher Priester im Hören auf das Gesetz Gottes.

 

Der Philosoph Heinrich Spaemann (1927–2018) hat in seiner Erklärung der Erbsünde auf die „Zahl des Widersachers“ 666 in Offb 13,18 hingewiesen. Vom 7. Tag des Sabbats in der Schöpfung her, der den „vom Menschen erfahrenen Transzendenzbezug, den Paradiesesfrieden, in ihr“ ausmacht, erscheint die Sechs „als Zahl der Welt vor ihrer Vollendung durch ihren Schöpfer, und danach die Absage an diesen als Programm, die Zahl der transzendenzlosen Diesseitswelt. Ihr sichtbarer Machthaber, ihre Repräsentation, ist schließlich der Antichrist, der Verkörperer menschlicher Hybris, der ohne Gott die Geschicke der ganzen Welt in die Hand nimmt. Zum Programm des Antichrist gehört die Abschaffung des siebten Tages“ (Erbsünde in biblischer Sicht, in: Geist und Leben 3/1992, 212-220, hier 213f).

 

Bei Rabbi Azriel werden die sechs Gegensätze im Siebten (vorläufig) geeint (Grözinger, Jüdisches Denken, 287f). Die Romantiker kritisierten in der Aufklärungszeit eine Verbürgerlichung des Christentums: Die Normalbürger der traumvergessenen Nützlichkeit werden zu „Philistern“ ohne Sinn für das Höhere, Wunderbare und Geheimnisvolle und ohne Lust an der Verwandlung, zu „Menschen ohne Transzendenz, sie tun alles, um des irdischen Lebens willen. Dieses irdische Leben aber will der Philister immer als derselbe durchleben, seine Identität ist ihm kostbar…“ (Rüdiger Safranski, Romantik, 2007, 199).

 

Der Weg der Umkehr als Rückkehr zum Ewigen

Das rabbinische Judentum kennt zwar nicht die Konzeption einer allgemeinen Erlösungsbedürftigkeit (= Erbsünde) des Menschen, wohl aber kennt es die sühnende Macht und Kraft der „Umkehr“ (Teschuwa) als „Rückkehr zum Ewigen“, die wegen ihrer großen Bedeutung zusammen mit der Thora, dem Heiligtum, dem Namen des Messias u. a. als präexistent gedacht wird: „Die Teschuwa ist ein Bestandteil der Welt vor der Schöpfung.“ „Der Weg zur Erlösung führt über Umkehr und Versöhnung“ (Pinchas Paul Grünewald, Im ewigen Kreis, 1980, 138f; vgl. 141).

 

 

Rabbi Azriel fügt zur Teschuwa noch die Tugenden des Glaubens und der Gottesfurcht dazu, um die „Einheit des oberen Willens zu erwirken, welche als Urgrund den Bestand der Welt über den Gegensätzen bewahrt“ (vgl. Grözinger, Jüdisches Denken, 288f, auch 444-447). Erlösen kann sich der Mensch aber nicht selbst, denn mit dem jüdischen Mystiker Isaak Luria wird gesagt: „Durch Adams Sünde kehrte der göttliche Anteil im Menschen zu seinem Schöpfer zurück. Jetzt war Adam nicht mehr die vom himmlischen Geist durchdrungene unsterbliche Personalität“ (Gründwald, 144f), sondern sterblich geworden. „Hier konnte die Teschuwa nicht mehr helfen“ (145).

 

Allerdings gibt es von Gott her im „Jetzt“ (Weata) einen Neubeginn in der Zeit: „Mit dem ‚Weata‘ hat Gott das Tor der Umkehr geöffnet! Auch nach der Verschuldung durch das goldene Kalb leitet das ‚Weata‘ die Möglichkeit zur Wiedergutmachung ein“ (131).

 

Vom „Jetzt“ im Zusammenhang mit der falschen Anbetung des „goldenen Kalbs“ (oder Stiers als Symbol irdischer Fruchtbarkeit) ist in Ex 32,10.30.32.34 und 33,5.13 sechsmal die Rede. Der Ruf zur Umkehr und Rückkehr erschallt besonders in den zehn Tagen zwischen dem Neujahrsfest (Rosch Haschana) und dem Versöhnungstag (Jom Kippur) im siebten Monat Tischri, wobei auch der 7. Tag als „Schabbat Schuwa“ eine besondere Rolle spielt gemäß dem Ruf Hoseas (14,2): Schuwa Israel – Kehre um, Israel (112f). Der Weg der Umkehr zum Ewigen ist dabei der Schöpfung von Anfang an eingeschrieben; deshalb wird sie mit dem geheiligten siebten Tag „vollendet“ (Gen 2,2). Dies aber so, dass erst mit der Oktav des „achten Tages“, der in der Sieben-Tage-Woche der „erste Tag“ (= Sonntag) ist, auch die Rückkehr zum Ewigen erfolgt.

 

Die Liturgiewissenschaftler Ansgar Franz und Alexander Zerfaß bemerken zum „achten Tag“ (in RU-heute, 14-18, hier 16): „Die Zahl Acht hatte in der ganzen Antike eine besondere Bedeutung. Sie ist Sinnbild des Vollendeten, des Ewigen, des Ruhigen. (…) Als Tag der Auferstehung Jesu ist der Achte Tag zugleich Ursprung und Vollendung. Ein anonymer Autor aus der Zeit des Papstes Damasus (366–384) sieht in ihm eine Art ‚Ur-Tag‘: ‚Der achte Tag nach einer Woche ist nämlich der erste dem Geheimnis nach. Denn: Das ist der Tag, den der Herr gemacht hat (Ps 118,24). Er hat nämlich den einen Tag gemacht, aus welchem die übrigen im Kreislauf hervorgehen sollten (…).‘“

 

Diese Struktur von zeitlichem Kreis-Weg und jenseitigem ewigen Ziel zeigt sich im Hebräischen im Wort für Sohn, ben, 2-50, in den Zahlenwerten der Buchstaben, wobei die 2 für die Zweiheit der Welt, die 50 (7 x 7 + 1) analog zur 8 für die jenseitig-übernatürliche Einheit steht. Weinreb schreibt: „Der Sohn führt den Weg durch die 7 x 7 dieser Wirklichkeit, in der man erschöpfend die Zweiheit erfährt. Er geleitet aber auch darüber hinaus. Er hat die 50 in seinem Namen, er bricht durch in die Welt des Achten Tages. Die Bestimmung des Sohnes ist, die Gegensätze zu vereinen: Diesseits und Jenseits. Das Fünfzigste – nach der 7 x 7 – ist die Ruhe des Anfangs, die Welt, aus der man kam, als der Weg begann. Der Weg drückt sich aus in den Begriffen 7 und 40, das [Gelobte] Land ist 8 und 50. Auf dem Weg gibt es das Manna (‚man’, 40-50). (…) Erst im Land ist das Ziel erreicht. Dort ist der Gan [= Garten] Eden. (…) Im wiedergewonnenen Paradies baut der Sohn Davids, des Geliebten, das Haus für den Vater“, das heißt den Tempel (Wunder der Zeichen, 52f).

 

Die Herabkunft des pfingstlichen Feuergeistes

Im christlichen Festkalender dauert die vorösterliche Fastenzeit (ohne die Sonntage!) 40 Tage, die österliche Festzeit bis Pfingsten 50 Tage. Am „50. Tag“ (pentecoste) kommt der göttliche Geist in Fülle als „Zungen wie von Feuer“ vom Himmel auf die im „Haus“ versammelten Zwölf Apostel mit Maria in ihrer Mitte (Apg 2,1-4). Dieses Pfingstereignis als Gründungsakt der Kirche bringt aber im Grund nur an den Tag, was verborgen von Anfang an das innerste Wesen der Schöpfung ausmacht, wie der Jesuit Michael Schneider ausführt:

 

 „‚Das unsagbare und wunderbare Feuer, das im Wesen der Dinge wie in einem Dornbusch verborgen ist‘, sagt Maximus Confessor, ‚ist das Feuer der göttlichen Liebe und der strahlende Glanz seiner Schönheit im Innern aller Dinge.‘ Der Heilige Geist baut die Schöpfung zu einem ‚Tempel‘ auf, der von der Schönheit Gottes Zeugnis ablegt. Alle Werke Gottes enden in der Präsenz des Heiligen Geistes, in ihm kommt das Werk des dreieinen Gottes zum Ziel. Durch das Wirken des Heiligen Geistes bleibt der Schöpfer in seiner Schöpfung gegenwärtig und erneuert das Antlitz der Erde. Das in Christus befreite und erlöste Leben der Neuschöpfung ist bleibend vom Wirken des Heiligen Geistes getragen. Er schenkt dem Glaubenden das Licht der neuen Schöpfung (2 Kor 4,6) und gewährt Anteil an der Auferstehung (1 Kor 12; 1 Kor 14; Röm 12,3ff.), vor allem aber macht er den Menschen leibhaftig zu einem ‚Tempel des Heiligen Geistes‘ (1 Kor 6,13-20)“ (in: George Augustin u. a. [Hg.]: Priester und Liturgie, 2005, 93-116, hier 113).

 

Und weiter: „‚Für Kyrill von Alexandrien ist es das Spezifische des Pneumas, Geist der Schönheit zu sein und dem ganzen Kosmos Anteil an der Schönheit der göttlichen Natur zu geben.‘ Der Heilige Geist erneuert den Erdkreis mit göttlicher Schönheit (vgl. Weish 1,7)“ (ebd. 112). In der christlichen Tradition ist der brennende Dornbusch mit der Offenbarung des Gottesnamens JHWH Vorausbild der jungfräulichen Geburt von Jesus (= JHWH rettet) aus Maria als vom Heiligen Geist „überschattetes“ reines Heiligtum (Lk 1,35), was wiederum Vorausbild von Pfingsten ist.

 

Nach der Enzyklika Dominum et vivificantem. Über den Heiligen Geist im Leben der Kirche und der Welt“ (1996) von Papst Johannes Paul II. „kann man sagen, dass der Heilige Geist ‚Feuer vom Himmel‘ ist, das in der Tiefe des Kreuzgeheimnisses wirkt“ (41). Wie die eucharistischen Schöpfungsgaben Brot und Wein durch die Herabrufung des Feuergeistes in Leib und Blut Christi verwandelt werden, so wird die ganze Welt in Gestalt der einen Welt-Kirche aus Juden und Heiden durch die Herabkunft des Feuergeistes (mit dem Sprachenwunder) an Pfingsten konsekriert und zur (Selbst-)Darbringung in Christus befähigt, um so in Liebe eine verwandelte, lebendige Opfergabe für Gott-Vater zu sein.

 

Die Erzählung von den Emmaus-Jüngern bezeugt, dass auch das Verstehen des Gotteswortes des Alten Testaments im Feuer des Heiligen Geistes analog zur Eucharistie (beim Brechen des Brotes) eine innere Verwandlung erfährt (Lk 24,25-32). Papst Franziskus schreibt im Vorwort zur Youcat-Jugendbibel (2015): „Ihr haltet … etwas Göttliches in Händen: ein Buch wie Feuer! Ein Buch, durch das Gott spricht.“

 

Schriftauslegung im Kult und Feuer des Geistes

Eben dieses geistig-geistliche Entbrennen ist nun aber genau das, was auch die jüdische Exegese von einer geistlich fruchtbaren Schriftauslegung erwartet. „So wird im Talmud berichtet, dass es geschehen konnte, dass während des Thorastudiums Feuer vom Himmel fiel, die Engel herbeikamen, ja sogar die Gottheit, die Schechina [Gegenwart der göttlichen Herrlichkeit in der Welt], zugegen war, und dass die vom Bibelexegeten gesprochenen Worte erklangen: ‚(…) wie bei ihrer Offenbarung am Sinai’.“

 

Karl Erich Grözinger (Jüdisches Denken, 2004, 303f) führt diese Passage an, um darzulegen, wie beim Thorastudium die räumliche und zeitliche Distanz zwischen der heutigen und der damaligen Situation aufgehoben und alles „in die je eigene Gegenwart des Studierenden gebracht wird. Das Studium ist auf diese Weise wunderbar und unmittelbar mit dem Sinai beziehungsweise mit dem Himmel verbunden wie einst, als das ganze Volk vor dem Berg Sinai stand und die Tora empfing.“

 

Was hier vom einzelnen Thorastudenten gesagt wird, gilt umso mehr von der zum Gottesdienst versammelten Heilsgemeinde, die Gottes Wort mit einem vom Heiligen Geist erleuchteten gläubigen Herzen hört. So wie alle gläubigen Juden beim Offenbarungsempfang auf dem Sinai sich als gegenwärtig anwesend verstehen sollen, und wie alle spätere Mündliche Thora (die lebendige Tradition) auf den Sinai zurückgeführt wird, so ist auch für alle gläubigen Christen jedes biblische Wort als „Gotteswort“ im Heiligen Geist Gegenwart und auf die Kirche beziehungsweise die eigene Seele zu beziehen. Die Thora als Bundesbuch und Brautgabe wird am „50. Tag“ (pentecoste) nach Ostern von Gott dem Mose auf dem Sinai übergeben, auf dessen Gipfel der Herr „im Feuer“ herabsteigt (Ex 19,18; vgl. Dtn 4,11.33.37), wie dann im Neuen Testament am „50. Tag“ der Heilige Geist in „Feuerzungen“ auf die Kirche herabkommt (Apg 2,1-4).

 

Eine talmudische Erzählung weiß von den Rabbinern Elieser ben Hyrkanos und Jehoschua ben Hannanja, dass sie sich bei der Beschneidungsfeier des Elischa ben Abuja beiseite setzten, um die Thora zu studieren: „Sie setzten sich und befassten sich mit den Worten der Tora und von der Tora zu den Propheten und von den Propheten zu den [Weisheits-]Schriften. Da fiel Feuer vom Himmel und loderte um sie. Da sprach Abuja: ‚Herrschaften, seid ihr gekommen, mir das Haus über dem Kopf anzuzünden?’ Sie erwiderten: ‚Gott bewahre! Wir saßen nur und reihten Worte der Tora und von der Tora zu den Propheten und von den Propheten zu den Schriften. Da freuten sich die Worte wie bei der Offenbarung am Sinai (…) und das Feuer umzüngelte sie, wie es vom Sinai züngelte! Und das Wesentliche ihrer [der Worte] Offenbarung geschah mit Feuer, [wie es heißt]: ‚und der Berg brannte im Feuer bis zum Herzen des Himmels!’ (Dtn 4,11)“ (zit. ebd. 304f).

 

Eucharistische Speise der Engel im Feuer der Liebe

Allerdings ist die hochzeitlich Vereinigung mit Gott als „verzehrendes Feuer“ (Dtn 4,24) nur möglich, wenn Israel ganz ohne Sünde ist, also ethisch und kultisch rein. Als „Tempel des Heiligen Geistes“ (1 Kor 3,16; 6,19) soll auch der menschliche Körper (wie der Tempel) zusammen mit der ganzen Schöpfung heilig sein. Den Gegensatz zur Heiligkeit des Leibes bildet die Sünde der sexuellen „Unzucht“ (1 Kor 6,18; Kol 3,5), aber auch die beiden anderen Kapitalsünden Mord und Götzendienst. Zielt die Unzucht (der „Dienst am Äußeren“) auf grenzenlosen Genuss, so der Mord auf unbeschränkten Besitz, auf die Verfügungsgewalt über Leben und Tod, und der Götzendienst auf absolute Macht.

 

Der 1. Johannesbrief spricht analog von einer dreifachen Begierde, nämlich der des Fleisches (Unzucht), der Augen (Wissen, Macht, Hochmut) und dem „Prahlen mit dem Besitz“: All dies ist „nicht vom [himmlischen] Vater, sondern von der Welt“. „Wer die Welt liebt, in dem ist die Liebe des Vaters nicht.“ „Die Welt und ihre Begierde vergeht; wer aber den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit“ (1 Joh 2,15-17). Jesus ist Feuer und Flamme für nichts anderes als die Erfüllung des heiligen Willens seines Vaters, der regelrecht seine „Speise“ ist (Joh 4,34).

 

Die heilige Kirchenlehrerin Caterina von Siena sagt in ihrem Hauptwerk Der Dialog. Gespräch mit Gott über seine Vorsehung“ (1377/78): „Weil die Menschen über alle anderen geschaffenen Dinge gesetzt sind – und nicht die geschaffenen Dinge über sie –, können sie nur durch das gesättigt werden, was größer ist als sie selbst“ (Kap. 93). Am Ende ihres Dialogs spricht die Mystikerin Christus selbst an als „Schönheit über jede Schönheit; Weisheit über jede Weisheit – ja, Du bist die Weisheit selbst! Du Speise der Engel, im Feuer der Liebe hast du dich den Menschen geschenkt“ (167). Und: „Es wird euch kein Blut gereicht, ohne euch zugleich Feuer zu reichen; denn aus glühender Liebe hat Er es euch gegeben. Feuer und Blut sind nicht ohne Meine göttliche Natur, da Er die göttliche mit der menschlichen Natur vollkommen vereinigte“ (127).

 

In der dreifachen Versuchungen Jesu durch den Teufel (Mt 4,1-11) wird das, was eigentlich nur (Lebens-)Mittel ist und in das Reich der Mittel gehört, zum Endzweck erhoben und verkehrt, während gleichzeitig Gott als letztes Ziel des Menschen zum bloßen Mittel degradiert wird. Der Mensch aber soll, so sagt Caterina, die irdischen Güter nutzen „nach seinem Bedarf, nicht aber dass er sie maßlos liebe und sie liebe außerhalb Gottes“, sondern „mit einer geordneten und nicht ungeordneten Liebe“. „Im Blute Christi … offenbarte sich uns die göttliche Liebe mehr als durch irgend etwas“ (zit. nach Otto Karrer [Hg.], Der mystische Strom, 1986, 136f).

 

Die Verkehrung der Ordnung von Weg und Ziel

Die Verkehrung der Ordnung von Mittel und Zweck, Weg und Ziel ist das, was die Bibel am Anfang als Sündenfall erzählt: Der Mensch erhebt die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zum Endzweck, um durch ihren Verzehr in der Welt „zu sein wie Gott“ (Gen 3,5). Doch diese Selbstermächtigung zum Maß aller Dinge beruht auf der Lüge der Schlange oder des Teufels als „Vater der Lüge“ (Joh 8,44). Der Mensch ist nur in dem Maße gottähnlich, wie er sein irdisch-sterbliches Leben nicht zum Ziel macht, sondern es im Gehorsam gegenüber dem Höheren hingibt bis zum Tod (am Kreuz) wie Christus, der so der wahre Weg zum Wie-Gott-sein in Gott ist (Joh 10,17f; 14,6; Mt 10,39).

 

In seinem „Gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8), erfüllt Jesus auf vollkommene Weise den Willen seines himmlischen Vaters. Aber dies nicht, weil – wie man kritisch eingewandt hat – Gott „auf Blut steht“, sondern weil in seinem Gott verherrlichenden Ganzbrandopfer die Menschen in seiner Nachfolge lernen sollen, „das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden zu kreuzigen“ (Gal 5,24), also wieder geistbestimmt, geheiligt und in der Ordnung der Liebe zu leben, statt bestimmt zu werden von den Begierden des Fleisches, was Gott nicht gefällt (Röm 8,8). So erlangt der Mensch die ursprüngliche „Gerechtigkeit und Heiligkeit“ des Bild-Gottes-seins zurück (Eph 4,24).

 

Dazu bedarf es der Kraft des Heiligen Geistes als Macht der göttlichen Liebe, die läutert, heiligt und verwandelt, das heißt von innen her den körperlich-materiellen oder irdisch-sterblichen Menschen einschließlich seiner raumzeitlichen Welt transformiert und transfiguriert in den Zustand der Heiligkeit als Anfang der eschatologischen Vollendung in der vollkommenen Liebe. Papst Benedikt XVI. sagt: „Das ist die Rolle des Geistes: Christi Werk zur Vollendung zu führen“ (Leidenschaft für die Wahrheit – Augustinus, 2009, 132).

 

Zur „bleibenden Liebe“ wird Augustinus selbst von ihm zitiert mit den Worten: „Der Heilige Geist lässt uns in Gott bleiben und Gott in uns; doch die Liebe ist es, die dies bewirkt. So ist der Geist also Gott als Liebe!“ „Liebe ist das Zeichen für die Gegenwart des Heiligen Geistes. (…) Liebe ist ihrem Wesen nach etwas Bleibendes“ (zit. ebd. 137f).

 

Die Kirche als Sakrament der Liebe Gottes

Wo die Welt in der Kirche für den wahren Gottesdienst geheiligt und gleichsam konsekriert ist, da gewinnt sie wieder ihre ursprünglich zeichenhafte Gestalt als Sakrament der Liebe Gottes. Die Kirche ist keine Neugründung vor 2000 Jahren durch Jesus, sondern das Neuwerden der Schöpfung als Heiligtum seit Urbeginn: „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung“ (1 Kor 5,17; vgl. Gal 6,15).

 

Deshalb ist „das innerste Wesen der Kirche in verschiedenen Bildern“ von Anfang an vorausbedeutet (LG 6), so im Haus Gottes oder heiligen Tempel in Jerusalem, im Paradies als Garten Gottes, in der Jungfrau Eva aus der Seite des Adam paradisus (SC 5), in der Stadt Jerusalem als himmlischer Wohnstatt Gottes, in Israel als Gottes geliebter Braut, in der Braut des Hohenliedes der Liebe, kosmisch im Ostervollmond und in der vom Geist erneuerten Mutter Erde (Ps 104,30) sowie in der Gestalt der erstgeschaffenen Weisheit, die ihr „Haus gebaut“ hat mit sieben Säulen (Spr 9,1). Diese Weisheit sagt von sich:

 

„Der Herr hat mich geschaffen im Anfang seiner Wege, vor seinen Werken in der Urzeit; in frühester Zeit wurde ich gebildet, am Anfang, beim Ursprung der Erde. (…) Als er die Fundamente der Erde abmaß, da war ich als geliebtes Kind bei ihm. Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit. Ich spielte auf dem Erdenrund, und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein. (… ) Wer mich findet, findet Leben und erlangt das Gefallen des Herrn. Doch wer mich verfehlt, der schadet sich selbst; alle, die mich hassen, lieben den Tod“ (Spr 8,22f.30f.35f).

 

Die Weisheit ist aber nicht nur geliebtes spielendes Kind vor Gott, sondern auch die „Meisterin (Künstlerin) aller Dinge“ (Weish 7,21) sowie reine und schöne „Braut“ (Weish 7,24; 8,2), die „König Salomo“ heimzuführen wünscht, um mit ihr ganz eins zu sein. Im unverbrüchlichen Bund mit Gott bildet sie den Liebesbund Christi und der Kirche voraus als Urbild des sakramentalen Ehebundes von Mann und Frau (Eph 5,25-32).

Umgekehrt ist die hochzeitliche Liebe von Mann und Frau „im Anfang“ als „Ein-Fleisch-sein“ (Gen 2,24) „Ursakrament“ und „Prototyp“ aller Sakramente des Neuen Bundes, wie Johannes Paul II. sagt (Die Erlösung des Leibes und die Sakramentalität der Ehe, hg. von N. und R. Schmidt, 1985, 220).

 

Alle Sakramente der Kirche verwirklichen den ewigen Liebesplan Gottes, der nach dem Sündenfall Adams als Bundesbruch den Bund mit Noah, Abraham und Mose erneut schließt. Am Kreuz (als Quint-essenz) wird er endgültig wiederherstellt im hochzeitlichen Ein-Fleisch-sein von Christus und der Kirche als „zentrale Wirklichkeit“ (186) und „Höhepunkt“ (208): „So ist der ‚zweite Adam‘, Christus, der mit der Kirche durch das Sakrament der Erlösung durch ein unauflösliches Band – analog dem unauflöslichen Band der Eheleute – mit der Kirche verbunden ist, endgültiges Zeichen desselben ewigen Geheimnisses“ (ebd. 218f ).

 

Die Kirche als wiederhergestellter Garten Eden

Die Kirche ist zugleich „des großen Gottes erneute Schöpfung“ (GL 482.1) und das noch durch die Zeit pilgernde Volk Gottes auf dieses Ziel hin (LG 9). Sie gleicht damit dem Garten „Wonne“ oder „Eden“, 70-4-50, wo in den Zahlen des hebräischen Wortes Weg und Ziel zusammenfallen. Weinreb (Schöpfung im Wort, 377-379) erklärt dazu:

 

„Die Kombination 70-4 bedeutet überdies ‚zu’, also den Weg zu einem bestimmten Ziel. (…) Und auch das Wort ‚zu’ gibt an, dass man den ganzen Weg zurückgelegt hat, die ganze 70, alles, was an diesem siebten Tag erscheint, und die ganze 4, nämlich alles, was im Prinzip die entfernteste Möglichkeit angibt. (…) ‚Eden’ ist also der Übergang dieser Welt der Vielheit in die kommende Welt [der Einheit], in die Welt der 50, in die Welt des achten Tages. Aber im Begriff Eden ist dieses Kommen gleichzeitig auch schon vollendet, so wie in einem Garten, auch im Bild, die Früchte schon zugegen sind, zumindest anwesend sein können, sonst wäre es kein Garten, sondern ein beliebiges Grundstück, das auch eine Wildnis sein könnte. In Eden ist also die Vielheit gleichzeitig auch in der Einheit schon anwesend. (…) Es besteht also eine für uns unbegreifliche Synthese: Die Vielheit ist da, der Weg zur Einheit ist da, und doch ist die Einheit selbst auch schon erreicht.“

 

Befruchtet vom Geist Gottes bringt die Kirche Früchte des Geistes hervor, an erster Stelle die Frucht der Liebe (Gal 5,22) und der Einheit des Geistes (Eph 4,2-6). Aber wie der Garten des Anfangs verwüstet wird durch die Sünde oder der Garten der Braut durch die roten „Füchse“ der sinnlichen Begierde (Hld 1,6; 2,15), so wird auch die Kirche immer wieder verwüstet. In der Kirche, so erklärte Papst Benedikt XVI. beim Angelusgebet Anfang Dezember 2009 mit Blick auf das „Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria“ (am 8. Dezember), findet „ein ständiger Kampf zwischen der Wüste und dem Garten“ statt, „zwischen der Sünde, die die Erde ausdörrt, und der Gnade, die sie bewässert, damit sie reiche Früchte an Heiligkeit hervorbringe“.

 

In der Moderne hat die ‚entzauberte’ Welt nicht nur einen atemberaubenden medizinisch-technischen Fortschritt erlebt, sondern sie ist auch „zur einförmigen Maschine … erniedrigt worden“ (Novalis). Soll die „Öko-logie“ und „Öko-nomie“ von Natur und Gesellschaft dauerhaft im maßvollen Gleichgewicht bleiben, dann muss die Welt als „Haus“ (griech. oikos) dem göttlichen „Logos“ und „Nomos“ als Weg und Sinn folgen. Das aber bedeutet, dass der Sinn für die Unendlichkeit und die geistige Fruchtbarkeit neu geweckt werden muss, denn ohne die Speise von oben wird die Unersättlichkeit zur weiteren Naturausbeutung führen und zu Süchten aller Art, wohinter immer die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies steht.

 

Das Alphabet der göttlichen (Zahlen-)Sprache erlernen

Der Ökumenische Patriarch Bartholomaios I. von Konstantinopel, Ehrenoberhaupt der Weltorthodoxie, hat bei seinem Deutschlandbesuch am 10. Mai 2014 in Stuttgart kritisiert, dass der heutige Mensch „ständig durch unbesonnene Handlungen todbringend in die Harmonie der Schöpfung“ eingreift, so dass die Menschheit heute „vor dem Abgrund einer ökologischen Katastrophe“ steht. Die Ressourcen der Erde sind immer endlich, aber in der Feier der Eucharistie habe Gott dem Menschen einen Weg eröffnet, wie er an seiner göttlichen Unendlichkeit partizipieren kann.

 

In der Eucharistie als kosmischer Liturgie, so Bartholomaios, kommt auch die Herrlichkeit der ganzen Schöpfung zur Sprache: „Dadurch, dass das grenzenlose Unendliche und das unbedeutendste aller endlichen Dinge in unserer Welt miteinander bestehen und zusammenhängen, verwebt sich alles zu einer gemeinsamen Feier der Freude und Liebe. (…) Wann werden wir endlich beginnen, das Alphabet dieser göttlichen Sprache zu lernen und zu lehren, das sich auf so geheimnisvolle Weise in der Natur verbirgt?“ (Und Gott sah, dass es gut war, 2017, 14f).

 

Ohne das Erlernen dieser göttlichen (Zahlen-)Sprache in der Schöpfung (und Bibel) wird in der westlichen Welt der Sinn für das Heilige in der Natur und für einen lebendigen Glauben an den Schöpfer weiter schwinden. Dieses Verschwinden und Verdunsten des wahren Glaubens als irrelevant, nicht die Kirchenkrise und nicht die Klimakatastrophe, ist aber „die größte Krise, vor der die Menschheit je stand“.

 

In der Orthodoxie wird am Montag der Heiligen Woche die Erzählung von der Verfluchung des Feigenbaums durch Jesus vorgetragen. Der Baum steht „zur Unzeit“, also außerhalb der Erntezeit, ohne Frucht da, was biologisch gesehen auch gar nicht anders möglich ist. Jesus erwartet aber keine zeitliche, sondern eine seinsmäßig bleibende Frucht jenseits der jeweiligen (Ernte-)Zeit. Denn mit seinem Kommen als Messias und mit der Sendung des Heiligen Geistes an Pfingsten ist ab jetzt immer Erntezeit (Pfingsten ist ursprünglich das Fest der Ernte der Erstlingsfrüchte). Jesus sagt zum Feigenbaum: „In Ewigkeit soll niemand mehr eine Frucht von dir essen.“ Als seine Jünger „am nächsten Morgen an dem Feigenbaum vorbeikamen, sahen sie, dass er bis zu den Wurzeln verdorrt war. (…) Jesus sagte zu ihnen: Ihr müsst Glauben an Gott haben“ (Mk 11, 14.20.22).

 

Friedrich Weinreb, Das Markus-Evangelium, 1986, Bd. II, 504f) erläutert: Jesus hungert „nach Liebe“; „Liebe ist immer da“, so wie der Baum des Lebens immer da ist, während der Baum des Wissens nur zeitlich existiert. Jesus verlässt zuvor „Bethanien“ (V. 12), das „Haus der reifen Feigen“ (504). Wegen der Schurze aus Feigenblättern für die im Sündenfall aufgedeckte Blöße (Gen 3,7) gilt der Erkenntnisbaum des Paradieses auch als Feigenbaum. Die Feige ist in der Zählung der Früchte die vierte Frucht (Dtn 8,8); die Zahl 4 (40, 400) steht biblisch für die sichtbare Welt. In ihrer Erscheinungsform hat die Feige viele kleine Kerne, aber keinen Kern. Das heißt, dass die vielen Kerne der Feige, so Weinreb,

 

„den Drang zur Vielheit, zur großen Fruchtbarkeit darstellen. Man sieht darum in der Tat des Menschen, vom Baum der Erkenntnis zu essen, auch die Tat des Geschlechtsaktes. Und damit lässt sich auch der Sinn des Geschehens mit dem Baum der Erkenntnis begreifen. Denn auf der einen Seite steht da das ‚seid fruchtbar und mehret euch’ [Gen 1,28], das Gott dem Menschen als neuntes Schöpfungswort [von insgesamt zehn] mitgibt, und andererseits besteht die Anweisung, nicht von diesem Baum zu essen. Durch den Ausspruch Gottes, der Mensch solle fruchtbar sein, ist festgelegt, dass der Mensch vom Baum der Erkenntnis essen solle. Dadurch entsteht die Menschheit. Der Mensch erzeugt die folgenden Generationen und nimmt damit den Tod auf sich. Das drückt sich überall aus, wo von ‚erschaffen’ die Rede ist. Aber so kann der Mensch angesichts des Todes als Folge des ‚seid fruchtbar und mehret euch’ Gott ‚umsonst’ dienen. Der Begriff ‚erschaffen’ [hebr. bara, 2-200-1] geht, wie es das Wort auch ausdrückt, über die ‚Zwei’, also auch über das Passieren der Schwelle des Todes, um nach der 490 [7 x 70] dieser Welt in die 500 der kommenden zu gelangen“ (Schöpfung im Wort, 895f).

 

Die 500 ist der Zahlenwert jenseits des hebräischen Alphabets, das mit dem kreuzförmigen Taw (400) endet. Die 22 hebräischen Buchstaben-Zahlen sind als Werkzeuge zur Wort-Schöpfung Organ göttlicher Offenbarung (vgl. Grözinger, Jüdisches Denken, 316-333 [Josef Gikatilla] und 346-360 [Abraham Abulafja]).

 

Die Zahl 500 drückt (wie 5 und 50) die kommende Welt der Auferstehung aus. Paulus verwendet diese Zahl im Hinblick auf die „500“ Zeugen der Auferstehung Jesu (1 Kor 15,6). Ezechiel schaut den endzeitlichen Tempel mit einer Mauer in den Maßen 500 x 500: „Sie sollte das Heilige vom Unheiligen trennen“ (Ez 42,20). Der Schöpferauftrag „Seid fruchtbar und mehret euch“, hebr. pru urebu, 80-200-6 und 6-200-2-6, ergibt in der Summe ebenfalls die 500: „Dieses ‚Seid fruchtbar und mehret euch’ ist der Weg durch die Zeit, die von selbst zur 500 führt. Es ist also ein Weg, der weiter führt als diese Welt und das Leben, die mit der 400 enden“ (Schöpfung im Wort 180; 695).

 

Der erlösende Auszug aus Ägypten findet 500 Jahre nach der Geburt Abrahams statt; mit der Geburt Isaaks, wenn Abraham 100 Jahre alt ist (Gen 21,5), beginnt Israel unter der 400-jährigen Sklavenherrschaft Ägyptens zu leiden: „Wir sehen, dass es von der Geburt Abrahams bis zum Auszug aus Ägypten 500 Jahre sind, von 1948 – 2448, und dass von der Geburt Isaaks an die 400 beginnen. Auch hier zeigt sich also die 1–4-Struktur“ (ebd. 310). Die 100–400- oder 1–4-Struktur ist die des Bundes Gottes, die auch in den beiden Bäumen im Paradies symbolisiert ist (vgl. ebd. Die Erzählung von den zwei Bäumen: 331–401).

 

Christus am (Taw-)Kreuz führt über diese irdische Welt der 400, also von „Sex und Tod“, hinaus zur himmlischen Welt der 500 des ewigen (jungfräulichen) Lebens (s. o. 40 und 50). Im kreuzförmigen Tau/Taw, so Erich Dinkler, ist „ein ganzes Glaubensbekenntnis in einem Zeichen zusammengefasst“ (zit. nach Joseph Ratzinger, Der Geist der Liturgie, 2000, 154).

 

Das Kreuz ist österlich der wahre Paradiesbaum mit der Eucharistie als seiner Frucht, die ewiges Leben spendet (Offb 2,7): „Holz auf Jesu Schulter, von der Welt verflucht,/ ward zum Baum des Lebens und bringt gute Frucht“ (GL 291.1). Im Liebesfeuer des Geistes ‚gebacken‘ ist das eucharistische Brot ‚alles‘, ‚voll‘, ‚erfüllt‘, ‚vollendet‘, hebr. chol, 20-30 = 50. „Was am siebten Tag zur Wiedervereinigung zusammenkommt, zeigt sich am achten Tag [oder 50. Tag] in Erfüllung“ (Schöpfung im Wort, 349).

Klaus W. Hälbig

 

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