Das Buch Genesis: Sakramentale Welt (2. Teil)

Bild: Franziskus dichtete den „Sonnengesang“ in 
altitalienischer Sprache im Winter 1224/25, schon
todkrank in einer Hütte bei San Damiano.
In das Lob
des Schöpfers bezog er alle Geschöpfe mit ein:
Bruder Sonne und Schwester Mond, Bruder Wind
und Schwester W
asser, Bruder Feuer (Laudato si
mi signore per frate focu
) und Mutter Erde –
Fensterbild der Kirche La Portiuncula in Palma
de Mallorca.

Die große Bedeutung des Tempel-Symbolkomplexes für das Verständnis der Genesis sieht der Innsbrucker Alttestamentler Georg Fischer in seinem Kommentar zu den ersten elf Kapiteln des Buches Genesis durchaus: „Paradiespark“ und Arche Noah sind „transparent auf das Heiligtum hin“ (43; vgl. 220). Die Adressaten des Buches sind ja die JHWH-Gläubigen in der Gemeinschaft Israel mit seinem im Tempel zentrierten religiösen Glaubens- und Frömmigkeitsleben: „Priesterliche Anliegen, wie siebter Tag, Opfer, Wichtigkeit des Altars, Unterscheidung reiner Tiere, Gottes Namen anrufen usw. scheinen durch die Erzählung durch; sie lassen das Bemühen erkennen, diese Praktiken sozusagen von ‚Urzeit’ an zu legitimieren …“ (701).

 

Aber es geht ja nicht nur um die Legitimation von religiösen ‚Praktiken’ mit ‚partikularem’ Anspruch, sondern um die Herausarbeitung und Darstellung dessen, was Gott mit der Welt überhaupt will, was ihr Sinn und ihr Wesen ausmacht. Dieses ist aber die ‚sakramentale’ oder auch ‚hochzeitliche’ Einheit der Zweiheit von (männlichem) Geist und (weiblicher) Materie, was etwa Papst Johannes Paul II. dazu gebracht hat, von der Ein-Ehe, die Bild der Liebesbeziehung zwischen Schöpfung und Schöpfung, Christus und der Kirche ist (vgl. das Hohelied der Liebe), als „Ursakrament der Schöpfung“ zu sprechen und als „Prototyp aller Sakramente des Neuen Bundes“ (Die Erlösung des Leibes, 1985, 208-224).

 

Dass die Erschaffung der Welt schlechterdings auf das ewige Gotteslob oder den Gottesdienst, die kosmische Liturgie zielt, liest man bei Fischer nicht. Joseph Ratzinger predigte 1985 noch als Erzbischof von München: „In allen Kulturen laufen die Schöpfungsberichte darauf hinaus, dass die Welt da sei für den Kult, für die Verherrlichung Gottes. Diese Einheit der Kulturen in den tiefsten Fragen des Menschseins ist etwas sehr Kostbares. (…) Unsere Gefahr in den technischen Zivilisationen besteht darin, dass wir uns von diesem Urwissen abgeschnitten haben; dass uns die Besserwisserei missverstandener Wissenschaftlichkeit hindert, die Weisung der Schöpfung zu hören“ (Im Anfang schuf Gott, 28f).

 

Der Tempel als Herzmitte Israels und der Schöpfung

Der Tempel ist die Herzmitte Israels, aber auch der Schöpfung, wo der königlich-priesterliche Mensch den (Opfer-)Gottesdienst feiert. Als „Bild Gottes“ wird er begabt und beauftrag, Gott zu repräsentieren: Als König soll er in Gerechtigkeit herrschen über die Welt der „Tiere“ (Gen 1,26), das heißt über die eigene innere Triebwelt, nicht über die Tiere der Außenwelt, was ja allenfalls bei den ‚Haustieren’ ginge (im Gotteshaus sind keine Tiere zugelassen). Und als Priester soll er auf Erden in Heiligkeit Gott dienen in Gemeinschaft mit den heiligen Engeln im Himmel, das heißt der unsichtbaren Welt des Geistes. Mit dem Sündenfall im Paradies als Urbild des Tempels verliert der Mensch material, aber nicht formal seine königlich-priesterliche Würde und Freiheit: Er bleibt weiterhin von Gott für seine geistige Aufgabe der Weltherrschaft und des Gottesdienstes berufen, wofür der Tempel das Symbol ist.

 

Wenn Mose am Ende des Buches Exodus die Wohnstätte Gottes, das er als Heiligtum „genau nach dem Muster“ im Himmel errichten muss (Ex 25,9; Hebr 8,5), „vollendet“ (Ex 40,33), so wie Gott sein Sieben-Tage-Werk als heilige Ruhestätte mit dem siebten Tag/Sabbat als Ruhetag „vollendete“ (Gen 2,2f), dann zeigen sich hier ja grundlegende Parallelen. Wie der Tempel und der Körper des Menschen als „Tempel des Heiligen Geistes“ (1 Kor 6,19) ein Kosmos im Kleinen ist, so ist der Kosmos als Heiligtum (und ‚himmlischer Mensch’) im Großen geschaffen.

 

Die vier Paradiesflüsse, die dem einen Strom entquellen (Gen 2,10), stehen in Bezug zum Wasser der Tempelquelle bei Ezechiel (47,1-12), das unter der Tempelschwelle am Eingang „hervorströmte und nach Osten floss“ (was Fischer erwähnt, aber nicht auswertet, 194). Dieses Bild steht hinter der Aussage Jesu, der ja mit seinem Auferstehungsleib der neue, von Sünde und Tod gereinigte Tempel ist (Joh 2,21f): „Aus seinem Innern werden Ströme von lebendigem Wasser fließen“, womit der Heilige Geist gemeint ist (Joh 7,38f; vgl. 19,34). Die christliche Tradition identifiziert die vier Flüsse mit den vier Evangelien, die in die ‚vierfache’ Welt (vgl. Heideggers „Geviert“) ausströmen, aber in dem einen Heiligen Geist eins sind und ihre erlösende Kraft haben (die Ikonographie stellt sie am Fuß des Kreuzes dar).

 

Erlösung von falscher Selbst- und Weltliebe

Die in Joh 3,10 angesprochene Liebe zur Finsternis folgt aus der Verblendung falscher Selbst- und Weltliebe, was den Kern der Sünde oder des Unglaubens ausmacht. Nach Paulus hat der „Gott dieser Weltzeit … das Denken der Ungläubigen verblendet“ (2 Kor 4,4) und ihre unverständigen Herzen „verfinstert“ (Röm 1,21). Deshalb geht ihnen „der Glanz der Heilsbotschaft“ von „der Herrlichkeit Christi, der Gottes Ebenbild ist“, nicht auf, sondern bleibt „verhüllt“ (2 Kor 4,3f). Nur der Geist Gottes, der den Glauben schenkt, kann diese Verhüllung, der auch das Alte Testament als (körperlicher) „Buchstabe“ unterliegt, wegnehmen (2 Kor 3,4-18).

 

Paulus rekurriert dazu auf den Uranfang der Schöpfung: „Denn der Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi“ (2 Kor 4,6). Die „Erlösung unseres Leibes“ (Röm 8,23) und der Welt bedeutet, den Gegensatz von Himmel und Erde zu versöhnen durch den „besseren“ ewigen oder „neuen Bundes“, weil ja der Alte Bund erst „Abbild und Schatten“, aber nicht die erlöste Wirklichkeit selbst ist (Hebr 8,8f; 9,15).

 

Im Alten Bund feiert Israel das Osterfest der Erlösung als Frühlingsfest im Frühlingsmonat, auf den es besonders zu achten hat (Dtn 16,1). Geschichtliche Erlösung ist nicht abgelöst von den geschöpflichen Vorgaben. So feiert auch die Christenheit ihr österliches Erlösungsfest am ersten Sonntag nach dem Frühlingsvollmond. Der Frühling korrespondiert mit der Himmelsrichtung des Ostens, des Aufgangs des Lichts, der Herbst mit dem Westen, der Winter mit dem Norden und der Sommer mit dem Süden.

 

Dies ist zu beachten, wenn es heißt, dass Gott den Paradiesgarten der „Wonne“ (Eden) „im Osten“ anlegt (Gen 2,8). Auch die Wiederkunft Christi zum Weltgericht und zum vollkommen enthüllten Aufgang seiner Herrlichkeit erwartet die Christenheit „vom Osten“ her (vgl. Apg 1,11), weshalb die Kirchen seit dem 5. Jahrhundert geostet sind. Der in der Genesis erzählte Weg führt hingegen vom „Osten“ (4 x: Gen 2,8; 3,24; 10,30; 11,2; 2 x „östlich“: Gen 2,14; 4,16) nach Kanaan im „Westen“ (Gen 11,31; 12,1.5; 13,14). Der Weg von Ost nach West ist auch der im Jerusalemer Tempel vom Eingang zum Allerheiligsten.

 

Inspirierter Glaube und der „Bund“ Gottes

Wie die im Alten Testament genannten „Urväter“ und Patriarchen als „Wolke von Zeugen“ des Glaubens zur „Ekklesia ab Abel“ dazugehören (Hebr 11 und 12,1), so auch ist der inspirierte Glaube der biblischen Hagiographen kein anderer als der der Kirche. Und wenn der Autor des Buches Genesis nicht weniger als den Anspruch erhebt, „Gottes Ziele und Wollen mit den Menschen und der Welt in Vielem zu kennen“ (Fischer 675), dann eben deshalb, weil er vom Geist Gottes inspiriert ist. Das Alte Testament ist wie das Neue Testament ‚Buch der Kirche’ und kann von einem christlichen Theologen nur als solches recht verstanden und ausgelegt werden. Auf die hier knapp angeführten neutestamentlichen Aussagen zu Christus als Erlöser der Schöpfung nimmt Fischer gleichwohl nur eher beiläufig Bezug (z. B. 169).

 

Kritik übt Fischer wie viele Exegeten an „einer männlichen Perspektive, wie sie im Hintergrund vieler Stellen der Bibel steht“ (214). Andererseits soll aber doch die Genesis- Darstellung der Erschaffung der Frau aus der „Rippe“ Adams (dem „gleichen Baustoff“) gerade die Gleichheit der Frau mit dem Mann betonen (211-213). Fischers Anliegen ist jedenfalls, die Gleichrangigkeit der Frau gegenüber der „patriarchalen“ Sicht der späteren Tradition herauszustellen (Sir 25,24: „Von einer Frau nahm die Sünde ihren Anfang, und ihretwegen müssen wir alle sterben“, ähnlich 1 Tim 2,13f). Das kann man aus heutiger Sicht begrüßen, verstellt aber auch leicht die Sicht auf das, was der inspirierte Hagiograph tatsächlich meint (s. o.).

 

Das Kernproblem der historisch-kritischen Exegese ist freilich, dass offenbar nicht gesehen wird, dass die vom Hagiographen aufgebauten Gegensätze zwischen Geist und Fleisch, den Brüdern Kain und Abel oder ähnlich auch zwischen dem „haarigen“ Esau und Jakob (Gen 25,25) analog sind zu den kosmischen Gegensätzen der zwei Seiten der Schöpfung: Erde und Himmel, Wasser und „Trockenes“, Mond und Sonne, Weibliches und Männliches, allgemeiner: Geist und Materie, Unwandelbares und Wandelbares, Ewiges und Zeitliches, Sein und Werden, Wesen und Erscheinung, unsichtbare und sichtbare Welt. Die göttliche Absicht hinter dieser gegensätzlichen Zweiheit in allen Dingen ist, wie schon gesagt, die Einswerdung in Liebe, wie sie dem biblischen Urgedanken des hochzeitlichen „Bundes“ zugrunde liegt. Der Philosoph Ferdinand Ulrich zeigt fasst den Bund in der Zahlenstruktur 1–4:

 

„Die jüdische Überlieferung verbindet den Sinn des Mannes mit der ‚Erinnerung‘. Er ‚freit‘, ist Befreier durch die Erinnerung zum Ursprung, den Akt der Sammlung ins Wort. Er eint die sinnenhafte Vielfalt und Mannigfaltigkeit der leibhaftig erscheinenden Welt (Dimension des Weiblichen, Materiellen; des Leibes im Symbol der raumzeitlichen ‚4‘) zu ‚1‘ des Wesens. Im Symbol der 1:4 (40, 400) wird der ‚Bund‘ ausgetragen. Ehe als Bund repräsentiert als Einheit von Mann und Frau die Versöhnungsgestalt von ‚Wesen und Erscheinung‘, ‚Geist und Leib‘, ‚Wort und Bild‘, ‚Sein und Seiendem‘ ...“ (Gegenwart der Freiheit, 1974, 15f).

 

Er-innerung als Sammlung ins Wort

Im ersten Teil wurde schon gesagt, dass „Teba“ (Kasten) auch „Wort“ bedeutet. In der Flutgeschichte (Gen 6,18 – 9,17) ist achtmal vom „Bund“ die Rede. Eingeleitet wird das 6. Kapitel mit der Feststellung, dass den Menschen (nur noch) „Töchter geboren“ wurden (6,1). Die Fokussierung auf die „Töchter“ und damit die „Frauen“ stellt für Fischer „eine Art von schwachem Ausgleich zur Konzentration auf die Männer in Gen 5 dar“ (371f). Bei dem Ausdruck „Göttersöhne“ sieht er zudem „eine Parodie auf das ‚starke Geschlecht’“ (388).

 

Gemeint ist aber stattdessen, dass das Weibliche als das umhüllende „Fleisch“ jetzt nur noch ohne den ‚männlichen Kern’ da ist, der an den Ursprung er-innert. Deshalb lässt der Pharao als Repräsentant der widergöttlichen Todesmacht auch nur die hebräischen Knaben töten, während die Mädchen am Leben bleiben können (Ex 1,22; ähnlich Herodes in Mt 2,16). Wie die Genesis ein anderes Sehen verlangt, das sich dem göttlichen Sehen angleicht, so verlangt sie auch eine andere Erinnerung, die sich nicht am äußeren Weltlauf festmacht, sondern daran, inwieweit die gegensätzliche Polarität der Welt versöhnt wird und so zur höheren Einheit des Bundes gelangt.

 

Dieser erfüllt sich mit dem österlichen Sonntag als ‚achten Tag’, der wiederum des Urlicht des ‚ersten Tages’ enthüllt. Eigentlich wäre die Schöpfung ein „immerwährendes Fest“, so der Philosoph Josef Pieper in seiner Fest-Theorie; mit dem wöchentlichen Sonntag als „eine mysterienhafte Gegenwärtigsetzung dieses Ereignisses [von Ostern], die eine unvergleichlich realere Präsenz bewirkt, als die Erinnerung es je vermöchte“, werden „die Urzeit und die Endzeit vor den Blick der Seele“ gebracht, „tut sich der unendliche Horizont auf, dessen die großen Feste zu ihrer Entfaltung bedürfen“ (Zustimmung zur Welt, ²1963, 77-79),

 

 

Nach dem griechischen Kirchenvater Maximus Confessor (um 580-662) geschieht Erlösung in fünf Synthesen durch den Gekreuzigten als Gott-Mensch, nämlich zwischen 1. dem Männlichen und dem Weiblichen; 2. dem heiligen Paradies (Tempel) und der Alltags-Welt; 3. dem Himmel (der heiligen Engel) und der Erde; 4. der unsichtbaren (intelligiblen) und der sichtbaren Welt, 5. dem Ungeschaffenen und dem Geschaffenen. So wird im Kreuz das große Mysterium des Schöpfungsplans Gottes offenbar", nämlich alle Extreme der Schöpfung miteinander sich vereinigen und in die gemeinsame Einigung in Gott münden" zu lassen (Lars Thunberg; vgl. Klaus H. Neuhoff, „Gott alles in allem“ (1 Kor 15,28). Theosis, Anakephalaiosis und Apokatastasis nach Maximos dem Bekenner in ihrer Bedeutung für die Kosmische Christologie, 2014, bes. 227-232).

 

Die fünfte, alle vier innergeschöpflichen Synthesen übersteigende Vermittlung ist letztlich gleichbedeutend mit der ‚ewigen Hochzeit’ oder dem Kommen des ‚Reiches Gottes’ Die Fünfzahl der Synthesen bei Maximus dürfte die fünf Wundmale des Gekreuzigten im Blick haben in der Bundesstruktur 1 (Herzwunde) zu 4 (Malen an Händen und Füßen; vgl. die Osterkerze), die durch den ‚Unglauben’ des Thomas besonders sichtbar gemacht wird (Joh 20,24-29; vgl. auch die 1–4 Struktur beim Verteilen der Kleider Jesu unter die vier Soldaten, die über das eine „Untergewand, das von oben her ganz durchgewebt war ohne Naht“, das Los werfen: Joh 19,23f).

 

Taube, Olive und das Salböl des Geistes

Im Buch Genesis ist der über allem schwebende Geist Gottes (Gen 1,2) die Kraft der alles versammelnden Er-innerung ins Wort. Im natürlichen Raum ähnelt die Bewegung der zu ihrem Schlag oder Ursprung zurückkehrenden Brieftaube diesem Grundvollzug des Geistes. Noah lässt nach der Flut erst einen schwarzen Raben (für das ‚Trockene’ der schwarzen Erde) und dann eine weiße Taube (als Symbol des Geistes) aufsteigen, die beim zweiten Ausflug mit einem frischen Olivenzweig im Schnabel zurückkehrt (Gen 8,11).

 

In Mk 1,10 kommt bei der Taufe Jesu der Geist als Taube herab und salbt den ‚geliebten Sohn’ mit himmlischer Kraft aus der Höhe, damit er den Kampf mit dem Widersacher (analog zum Chaosdrachen der Sintflut) aufnehmen und bestehen kann: Jesu Leben bei den „wilden Tieren“ erinnert oder wieder-holt den Paradiesfrieden (Mk 1,12f).

 

Der Olivenzweig verweist auf die bittere Olive. Sie wird als sechste Frucht gezählt (Dtn 8,8), die wie Jesus durch das bittere Leiden im Garten „Getsemani“ (= „Ölpresse“) leidvoll gepresst werden muss, damit es am Ende des sechsten Tages (Karfreitag) zum Geist-Öl des achten Tages (Sonntag) wird. Im Hebräischen sind die Worte für „acht“ (schmonah) und Salböl (schemen) bis auf die Endung in den Konsonantenbuchstaben gleich (deshalb ist die Menorah am jüdischen Lichterfest Chanukka mit dem Ölwunder acht-armig).

 

Durch den (Geist-)Wind wird die Erde von den Wassermassen allmählich wieder befreit. Erde und Himmel sind nie nur Bühne des Geschehens, sondern sind als wirkende Akteure oder Kräfte im Guten wie im Bösen mit einbezogen. In Gen 1–11 wird der Himmel (hebr. schamajim) 25 x und die Erde (hebr. eretz) 96 x genannt, „fast viermal häufiger“, so Fischer (98). Nimmt man die fünfmalig Nennung vom „Garten Eden“ in Gen 2/3 dazu, dann entspricht das Verhältnis ziemlich genau der Bundesstruktur 1 zu 4. Dieselbe Struktur habe auch die beiden Bäume in der Mitte des Paradieses: der Lebensbaum hat den Zahlenwert 233, der Erkenntnisbaum von Gut und Böse hat 932, das Verhältnis ist 1 zu 4 (vgl. Weinreb, Schöpfung im Wort, 331-401: Die Erzählung von den zwei Bäumen).

 

Die beiden Bäume in der Mitte des Paradieses

Im Paradies verkörpern die beiden Bäume sowie Mann und Frau die Polarität der kosmischen Gegensätze. Nach Sören Kierkegaard (1813-1855) ist der Mensch eine Synthese aus Unendlichkeit und Endlichkeit, Notwendigkeit und Freiheit, Seele und Leib. Mit dem ersten Essen der verbotenen Frucht durch Verführung der „Schlange“ (Triebnatur) ist die Synthese des Menschseins im Paradies zerfallen in ‚männliche’ Gewalt im „Zorn“ (griech. thumos) und ‚weibliche’ Begierde (epithumia) des „Fleisches“ (Gen 6,1-5.12f). Die Schöpfung war nicht mehr sakramentales ‚Gotteshaus’ als Einheit von sichtbarem Zeichen und unsichtbarer Gnade.

 

Über den Menschen schreibt Alfons Auer: „Dem Kosmos fehlte ohne den Menschen die repräsentative Mitte. Der Mensch ist wirklich die Mitte der Kreatur, der Mikrokosmos, die ‚lebendige Klammer, die die Welt des Geistigen und des Körperlichen vereint und zum Tempel Gottes formt‘, ‚der Schnittpunkt aller Linien, der Brennpunkt aller Strahlen, der Angel- und Wendepunkt aller Ab- und Aufstiege‘, ‚das Gelenk zwischen materieller und geistiger Welt‘. (...) Weil Mensch und Kosmos einander wie Haupt und Leib zugeordnet sind, muss ihr Schicksal ein gemeinsames sein“ (Weltoffener Christ, 92ff).

 

In diesem Sinn ist der Mensch als synthetische Einheit von Geist und Körper, Vernunft und Sinnlichkeit wie der Garten der ‚Ort der Kontemplation’. Die alten Kulturen verstehen ihn als Beobachter des Himmels (kosmotheoros, spectator coeli), die Bibel sieht ihn berufen zur geistig-geistlichen Schau des Ganzen oder des „Friedens“ (hebr. schalom). So bedeutet auch Jeru-salem, Mitte und „Nabel der Welt“ (Ez 38,12), das Sehen des Ganzen, des Friedens als Harmonie der Gegensätze und so Gottes (vgl. Gen 22,14).

 

Der Meditationslehrer und Zen-Meister Detlef Witt bemerkt: „Die Erfahrung des einen Nabels der ganzen Welt, die Mystik, die Frucht der Kontemplation, ist der einzige echte Einigungsort aller Menschen und aller Religionen; in ihm sind wir alle ein mystischer Leib und ein Geist“ (, Der Omphalos – Der Nabel der Welt, in: Jakobus Kaffanke [Hg.], Spirituelle Blütenlese I. Schriften zum geistlichen Weg, 2011, 9-42, hier 41). Dieser ‚Einigungsort’ der Kontemplation ist mit dem Paradiesgarten gemeint, in dem die beiden Bäume „Vernunft“ (Einheit) und „Sinnlichkeit“ (Zweiheit) das Zentrum bilden (Gen 2,9).

 

Für die historisch-kritische Exegese sind die beiden Bäume hingegen ein bleibendes „Rätsel“ (Andreas Schüle). In kosmischer Symbolik sind Vernunft und Sinnlichkeit Sonne und Mond. Nach einem angeblichen Schreiben Alexanders des Großen an seinen Lehrer Aristoteles wurde der Makedonenherrscher während seines Zuges nach Indien in einen „Park geführ, in dessen Mitte ein Heiligtum der Sonne und des Mondes war; dort standen zwei zypressenartige Bäume, die fast bis zum Himmel ragten. Der Name des männlichen Baumes war ‚Sonne‘, der des weiblichen war ‚Mond‘“ (Manfres Lurker, Die Botschaft der Symbole. In Mythen, Kulturen und Religionen, 1990, 158).

 

Für die Inka in Peru beherbergte das Allerheiligste des Coricancha, von den Spaniern ‚Sonnentempel’ genannt, weil seine Wände innen wahrscheinlich „mit Gold verkleidet“ waren, zwei Gestalten bewohnt: die goldene Statuette eines Mannes, „das hoch verehrte goldene Abbild der Sonne, das … für die Herrschaft der Inka“ stand, und „das silberne Abbild des Mondes, in Form einer weiblichen Statuette … Diese Heiligenfiguren gehörten zu den am meisten verehrten des Inka-Reiches. Das herausragendste Merkmal der Coricancha jedoch war der so genannte ‚Garten der Sonne’ … “ In diesem dem Tempel benachbarten Sonnen-Garten standen auch goldene und silberne Darstellungen von Tieren und Pflanzen im Maßstab 1:1 (Brian S. Bauer/Matthew Piscitelli, Die imperiale Religion der Inka, Ausstellungskatalog Inka. 2013, 88f).

 

Einwohnung Gottes im gläubigen Herzen

Bild des harmonischen Paradiesfriedens als Synthese der Gegensätze ist das hochzeitliche „Ein-Fleisch-sein“ von Mann und Frau (Gen 2,24). Das bezieht Paulus auf Christus und die Kirche: Für sie hat er sich aus Liebe am Kreuz hingegeben, um mit ihr – im Wasserbad der Taufe von der Sünde gereinigt – in der Eucharistie „ein Geist“ und „ein Leib“ (Fleisch) zu sein (Eph 4,4; 5,25-32). Im Gott-Menschen erfüllt sich so der Sinn der Schöpfung, die auf die Einwohnung Gottes im Heiligtum beziehungsweise im Menschen hin gebaut ist.

 

Peter Schäfer führt in dem im ersten Teil genannten Aufsatz über den Zusammenhang von „Tempel und Schöpfung“ (133) in der rabbinischen Tradition aus, dass die Welt erst mit der Errichtung des Heiligtums vollendet ist, „weil die Welt von Anfang an und ihrem Wesen nach darauf angelegt ist, dass Gott Gemeinschaft mit Menschen hat; ohne eine solche Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch wäre die Erschaffung der Welt sinnlos und überflüssig. (…) Nur der Tag, an dem zum ersten Mal Opfer im Wüstenheiligtum dargebracht wurden, verdient es, ‚erster Tag’ genannt zu werden, denn erst an diesem Tag konnte Gott bei den Menschen Wohnung nehmen, war die Erschaffung der Welt wirklich vollendet.“

 

Allerdings ist nicht das äußere Heiligtum entscheidend, sondern das innere des reinen Herzens (Gewissens) oder des Körpers (Mt 5,8). „In einer Seele, die auf Böses sinnt, kehrt die Weisheit nicht ein, noch wohnt sie in einem Leib, der sich der Sünde hingibt. Denn der heilige Geist, der Lehrmeister, flieht vor der Falschheit… “ (Weish 1,4f). Wenn Gott die Welt im ‚Bund des Feuers’ (berith-esch) erschafft und der ‚Himmel’ (schmajim) zu lesen ist als Vermählung der Gegensätze von Feuer und Wasser (esch-majim), dann ist das Schweben des Geistes Gottes im Anfang über den Wassern der Urflut (Gen 1,2) ebenfalls als Bild für diese Vermählung von Feuer und Wasser zu verstehen, zu der die Schöpfung von Anfang an unterwegs ist.

 

Fischer übersetzt den grundlegenden ersten Satz: „Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde“ mit: „In einem Anfang hat Gott den Himmel und die Erde geschaffen“. Das fünfte der insgesamt sieben Worte von Gen 1,1, ‚Himmel’, wird von Fischer mit dem sichtbaren Himmel des Kosmos identifiziert (126; 166). Nur einmal heißt es in Klammern mit einem jüdischen Midrasch: „Als einziges Geschaffenes ist der Mensch mit beiden Sphären, Himmel und Erde, verbunden“ (150), womit ja wohl Geist und Materie gemeint sind, was aber nicht gesagt wird. Der Mensch selbst umfasst Himmel und Erde und ist so berufen, heilige Braut und heilig Wohnstatt für die Einwohnung Gottes in seiner innersten Mitte, dem ‚Allerheiligsten’ oder Herzen, zu sein (Joh 14,23; Eph 3,17).

 

Neuer Himmel und neue Erde

Das Allerheiligste der Bibel ist nach Rabbi Akiba (2. Jh.) das Hohelied der Liebe, in dem der Gottesname gar nicht vorkommt. Ludger Schwienhorst-Schönberger hat aber in seinem Hohelied-Kommentar (2015) gezeigt, dass sich die Braut 26mal an ihren Bräutigam wendet, was ja die Zahl des Gottesnamens JHWH (10-5-6-5) ist. In Hohelied (5,10-16) wird „eine Statue beschrieben, eine Gottesstatue (vgl. Jer 10,9; Dan 2,31-33). Haupt, Hände und Füße sind aus reinem Gold, der Farbe der Götter. Für das Verständnis des Hohenliedes ist diese Beobachtung grundlegend. Der Mann erscheint wie eine Gottesstatue. Für die Geliebte ist er von göttlicher Gestalt“ (Ludger Schwienhorst-Schönberger, Eine Gottesstatue, in: Christ in der Gegenwart 1/2014, 19).

 

In Psalm 19,6 wird die Sonne als „Bräutigam“ besungen, die ihren Jahreslauf im Frühling beginnt wie ein strahlender Held, was dann von Ambrosius und anderen auf Christus bezogen wird: „Wie die Sonne sich erhebt und die Welt als Held durcheilt, so erschien er [Christus] in der Welt, wesenhaft ganz Gott und Mensch“ (Gotteslob 227.3). Weihnachten (25. Dezember) an der Wintersonnen-Wende und neun Monate zuvor das Fest „Mariä Verkündigung“ in der Frühlings-Tagundnachtgleiche (25. März) sind am Lauf der Sonne orientierte Festdaten, die Christus als „Sonne der Gerechtigkeit“ (Mal 3,20) deuten. Auch als „neuer Adam“ oder „himmlischer Mensch“ gleicht Christus der Sonne (1 Kor 14,40-49).

 

Wenn Adam seiner Frau Eva den Namen „Mutter aller Lebendigen“ gibt (Gen 3,20), dann ist dabei an eine Göttin zu denken (bei Philo ist die Zwei die „Mutter der Götter, vgl. Staehle, 6). Nahe liegend ist Luna, die auch die Terra (Erde, Adamah) mit einschließt. In Sir 40,1 heißt es: „Große Mühsal hat Gott dem Menschen zugeteilt, ein schweres Joch ihnen auflegt von dem Tag, an dem sie aus dem Schoß ihrer Mutter hervorgehen, bis zum Tag ihrer Rückkehr zur Mutter aller Lebendigen.“ Auch der von der ‚jungfräulichen’ Erde genommene Adam kehrt – nach seinem Fall (durch Eva/Luna) sterblich geworden – zum „Staub der Erde“ zurück (Gen 2,19). Unmittelbar danach (V. 20) erfolgt die Namensgebung für Eva.

 

Die geisterfüllte Jungfrau und Gottesmutter Maria wird in der christlichen Tradition als die neue Erde verstanden, sendet doch Gott seinen Geist aus zu „erneuern das Antlitz der Erde“ (Ps 104,30). Die dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium des Zweiten Vatikanischen Konzils sieht eine Parallele zwischen dem Dialog Evas mit der Schlange als gefallenem Engel und dem Dialog Marias als neuer Eva mit dem Engel des Herrn (am 25. März): „Im Glauben und Gehorsam gebar sie (Maria) den Sohn des Vaters auf Erden (!), und zwar ohne einen Mann zu erkennen, vom Heiligen Geist überschattet, als neue Eva, die nicht der alten Schlange [vgl. Offb 12,9], sondern dem Boten Gottes einen von keinem Zweifel verfälschten Glauben schenkte“ (LG 63). Wie eng Luna und Maria zusammen gesehen wurden, zeigt die Argumentation von berühmten Jesuiten-Astronomen wie Christoph Scheiner, der gegen Galileis Entdeckung der Mondkrater die „Unbeflecktheit“ des Mondes für die „unbefleckte Empfängnis“ (= Erbsündlosigkeit) Marias als neuer Eva ins Feld führte (vgl. Eileen Reeves, Painting the Heavens. Art and science in the age of Galileo, New Jersey 1999, bes. 152-154 und 202).

 

 

‚Überschattet’ ist Maria als das neue Heiligtum so, wie das Offenbarungszelt von der Wolke der Gegenwart Gottes verhüllt und überschattet wurde, „und die Herrlichkeit des Herrn erfüllte die Wohnstätte“ (Ex 40,34; vgl. Joh 1,14). Mit der Jungfrau und Gottesmutter Maria tritt an die Stelle der den Menschen fesselnden Erde als Magna mater die frei setzende neue ‚Mutter Erde’ und ‚neue Luna’ in vollkommener Entsprechung zum ‚Vater im Himmel’. Maria-Ekklesia, die auf der Mondsichel steht, bekleidet vom Licht der Sonne und gekrönt von den zwölf Sternen des Tierkreises (Off 12,1), verkörpert so die ‚jungfräulich-keusche’ Sinnlichkeit des wahren Glaubens, die bei aller Erdverbundenheit (auf Ikonen oft dargestellt im rotbraunen Gewand) kontemplativ offen ist für die Inspiration des Geistes von oben.

 

Verbindung mit dem Ursprung im Brandopfer

Diese Offenheit des Glaubens zeichnet auch Noach aus, mit dem Gott nach dem Ende der Wasserflut den ursprünglichen (sakramentalen) „Bund“ von Himmel und Erde erneuert und wieder hergestellt: Noach bringt Gott das rechte Brandopfer dar mit dem aufsteigenden „Wohlgeruch“ (Gen 8,20f), hebr. reach nichoach, was – wie Friedrich Weinreb erklärt – ein „ständiges Nach-Hause-kommen“ bedeutet, „das ‚Einsammeln’ Oben, das Glück, dass dies [Verbrennende] alles wieder zu Hause ist. Der Mensch ist wieder zu Hause, alles ist wieder zu Hause.“ Es ist der „Geruch des achten Tages“ (Das Opfer in der Bibel, 2010, 102; 182). Reach nichoach hat den Zahlenwert 300 ebenso wie der „Geist Gottes“ (ruach Elohim: Gen 1,2). Das ist auch „der volle Wert des Namens Gottes“ (103).

 

Opfern, hebr. korban, bedeutet Sich-Gott-nähern (vgl. griech. ana-phora = hochbringen). Gott näher gebracht wird im Feuer der (in der Zeit verbrennende) Körper der irdischen Existenz. Dem Opfer Noachs entspricht das aufsteigende Lamm-Opfer des Viehhirten Abel (= Hauch), während das Opfer des Ackerbauern Kain (= Lanze), des „Bearbeiters der Erde“ (obed adama), von den „Früchten des Erdbodens“ horizontal bleibt.

 

Abel und Kain verhalten sich für den Autor der Genesis wie Seele und Leib: Nur die Seele kann das rechte Opfer darbringen. „Dazu kam Abel nach Kain: um den Körper wieder mit dem Ursprung zu verbinden“ (Schöpfung im Wort, 410). Der materielle Weg des Körpers hingegen führt nicht zu Gott, deshalb entbrennt Kain in Zorn über das von Gott nicht angenommene Opfer und tötet seinen „Bruder“, so dass Gott wiederum ihn verflucht (Gen 4,3-11); zugleich schützt er ihn mit einem „Zeichen“ (Taw = Zeichen) und verspricht ihm sieben-fache Vergeltung (V. 15). .

 

Irdische und geistliche Trunkenheit

Nicht von Gott, sondern von Noach verflucht wird schließlich auch dessen zweiter Sohn Ham, weil er des Vaters Blöße oder Scham im weintrunkenen Zustand im Zelt anblickt, während die anderen beiden Brüder (maßgeblich ist Sem/Schem = Name) rückwärts gehend mit abgewandtem Gesicht sie mit dem Gewand überkleiden (Gen 9,21-24): „In abgemilderter Weise“ kehren, so Fischer, „nach der Flut menschliche Vergehen und Fehler wieder“ (522).

 

Noach wird hier erstmals „Mensch des Erdbodens“ genannt (V. 20), der doch nach dem Fall von Gott verflucht wurde (Gen 3,17; 5,29). Noachs ‚Nacktheit’ ist nicht die des Paradieses, die eigentlich – weil sie kein Anlass zum Sich-schämen ist (Gen 2,25; vgl. 2 Kor 5,3) –  ein Bekleidetsein mit Gottes Lichtherrlichkeit meint. Vielmehr betont sie – ebenso wie sein Weinrausch – seine gefallene irdische Existenz. Mit ihr macht sich Ham, indem er neugierig seinen ‚irdischen Ursprung’ anschaut, gemein. Sein Vergehen ist ein falsches, ‚unkeusches’  Sehen, das beim Äußeren hängen bleibt und sich nicht mit dem „göttlichen Sehen“ der göttlichen Weisheit verbindet, dass der biblische Autor doch gerade vermitteln will (vgl. Fischer 106).

 

Ebenso basiert der Mangel am Opfer Kains beim Verbleiben im Äußerlichen ohne die rechte innere Gesinnung. Befangen und gefesselt im Äußerlichen und Irdischen ist der Mensch immer ‚betäubt’ und ‚taub’ wie in einem ‚Rausch’ und wird so zum ‚Götzendiener’ (Gen 9,25: der „Diener von Dienern“). Der Weinberg, hebr. kerem, 20-200-40 = 260, hat es mit JHWH (= 26) zu tun. Mose, der 26. Generation, wird der Gottesname im brennenden Dornbusch offenbart (Ex 3). Die Frucht des Weines ist aber wie das Brot zu ‚heiligen’, das heißt mit dem Wesen zu verbinden, und nicht zu entweihen. In der christlichen Tradition gilt Noach als Typus des „weinspendenden Erlösers“.

 

Die Benediktinerin Photina Rech verweist zudem darauf, dass der Weinbringer Dionysos „in mancher Hinsicht ein Bruderbild des biblischen Noe“ ist: Irenäus, Cyprian und Ambrosius sehen in Noach „das prophetische Bild des göttlichen Weinbringers Christus, des Stammvaters der neuen Menschheit und Herrn der neuen Weltzeit, der als wahrer ‚Tröster‘ [= Noach] und ‚Löser‘ [= Dionysos] des Adamsgeschlechtes einer neuen Schöpfung die göttliche Trunkenheit schenkt“ (Inbild des Kosmos, 1963, Bd. II, 433; 455; 459).

 

Neben der göttlichen oder ‚nüchternen’ Trunkenheit gibt es aber eben auch die sehr irdische, so dass der Mensch am Ende, wie Weinreb herausstellt, nicht mehr weiß, „wozu Gott diesen Weinberg der Welt gemacht hat. (…) Wer die Frucht aber für sich selbst benutzt, zum Genuss von der Erde, der wird betrunken davon. Der Rausch der Erde übermannt ihn, er verliert die wahren Proportionen, wird zum Tier, macht sich als Mensch also eigentlich lächerlich, weil sich bei ihm dadurch der zum Menschlichen so gar nicht passende Weg auffallend deutlich zeigt. (…) Und wer diesen Rausch wählt, entblößt sich eigentlich auch. Genauso bemerkt der erste Mensch, dass er ‚nackt’ war, nachdem er vom Baum der Erkenntnis genommen hatte. Was bis dahin gerade nicht hervorgetreten war, die körperliche Seite des Menschen, wird jetzt seine Ausdrucksform. Der Mensch offenbart sich als etwas Materielles, als ein intelligent entwickeltes ‚Tier’“ (Schöpfung im Wort, 487f).

 

Gott in der Schöpfung sehen lernen

Auch nach Fischer ist Gen 9,18-29 auf dem Hintergrund von Gen 2–4 zu lesen mit vielen gemeinsamen Zügen und auffälligen Parallelen (540). Wie aber dort der Sündenfall nicht wirklich vom übernatürlichen Glauben her als ‚Bundesbruch’ verstanden wird, so auch nicht hier. Für die historisch-kritische Exegese kommt die Welt der Auferstehung (oder des achten Tages) biblisch überhaupt erst mit den späten Makkabäerbüchern aufgrund des Martyriums der gesetzesfrommen Juden (2 Makk 7) in den Blick. Nach dem Weisheitsbuch hat Gott dagegen in allem seinen „unvergänglicher Geist“ gelegt (12,1).

 

So hätten die Menschen von Anfang an „von der Größe und Schönheit der Geschöpfe … auf ihren Schöpfer schließen“ können (13,5), der ihre Gerechtigkeit und Unvergänglichkeit will. Doch ließen sie sich „durch den Augenschein täuschen; denn schön ist, was sie schauen“ (13,7). So sind alle Menschen von Natur „töricht …, denen die Gotteserkenntnis fehlte“ (13,1). Dabei hat der Schöpfer „aus ungeformtem Stoff die Welt gestaltet“ (11,17) und alles herrlich „nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“ (11,20). „Mit Gottes Augen sehen zu lernen“ und so wahrhaft zu glauben, ist laut Fischer eine wesentliche Grundbotschaft der Genesis (106f), ohne aber näher anzugeben, was damit gemeint ist.

 

Hauptakteur der Genesis ist der unsichtbare „Gott“ (Elohim) – im Prolog Gen 1 insgesamt 35 (5 x 7) Nennungen – und „JHWH Gott“ – in Gen 2/3 20 Nennungen. „Gott ist eingangs der große ‚Impulsgeber’, von dem Alles ausgeht“ (84). Er bleibt auch danach präsent: klärend, korrigierend und neue Wege eröffnend, so dass er sich zugunsten der menschlichen Akteure, die seinem Willen entsprechen, mehr und mehr zurücknehmen kann: Noach (vier Kapitel), Abraham (elf Kapitel), Jakob (12 Kapitel) und Josef (14 Kapitel). Gott ist aber auch der große Strukturgeber, der einen Heils- und Liebesplan verfolgt, der auf die ewige Gemeinschaft mit ihm im Himmel zielt.

 

Gegliedert wird die gesamte Genesis mit Thomas L. Brodies Gen-Kommentar (2000) entsprechend in „vier größere Dramen“ (49): Adam bis Noach (Gen 1–11), Abraham (12–25,18), Jakob (15,19–37,1) und Josef (37,2–50,26; anders die Einheitsübersetzung von 2016, die den ersten Hauptteil mit Kap. 9 enden lässt). Dabei spielen durchgehend drei große Themen eine Rolle: Segen/segnen (88 Nennungen), Fruchtbarkeit/Nachkommenschaft und „Land“: die „Erde“, der von Gott zugewiesene Garten oder „Paradiespark“ beziehungsweise dann das „Verheißene Land“ Kanaan.

 

Dass der Mensch als „Bild Gottes“ diesem „ähnlich“ ist, realisiert er dadurch, dass er im wahren Glauben auf die jenseitige Vollendung hofft und sich festmacht in der unsichtbaren Welt (Hebr 11,1-3; Gen 15,6) – als ein ‚Wandeln mit Gott’ (Gen 5,22.24; 6,9) und in Gottesfurcht (Gen 22,12). Diese Ehrfurcht – im Hebräischen eigentlich das „Sehen Gottes“! – ist der „Anfang der Weisheit“ (Ps 111,10; Spr 1,7). Zugleich ist der ehrfürchtige Glaube die wahre Gottesliebe als Antwort auf die bräutliche Liebe, mit der Gott die Welt geschaffen hat;  „denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen“ (Weish 11,24).

 

Verblendung der Sünde und Heilung im Glauben

Gehasst werden von Gott aber die Sünder (besser: die Sünde), die „abscheuliche Verbrechen“ begehen; ihnen wird „Zeit für die Umkehr“ gegeben, aber das „Land“ genommen, das „eine seiner würdige Bevölkerung von Gotteskindern erhalten“ soll (Weish 12,3-7.10). Indem die Stammeltern dem täuschenden Lügenwort der Schlange erliegen und vom Erkenntnisbaum essen, erwerben sie (für die ganze in ihnen verkörperte Menschheit) nicht die wahre Weisheit als rechte Ordnung der Liebe, sondern die Torheit der ungeordneten, dem Irdischen verfallenen Liebe und verlieren dadurch das wahre „Land“ der Ewigkeit.

 

Dass Adam und Eva mit dem Essen vom verbotenen Baum „die beiden Augen“ aufgehen (Gen 3,7), bedeutet nicht, dass sie nun im Licht der Weisheit und des Gehorsams sehen, den Gott vom Menschen erwartet; es ist vielmehr ein Sehen mit einem blinden Verstand und ‚verblendeten’ Denken (2 Kor 4,4; vgl. Weish 2,1-21), ja mit einem ‚verfinsterten’ Herzen: „Sie behaupteten, weise zu sein, und wurden zu Toren“ (Röm 1,21f). Die Schlange im Paradies verspricht zwar Klugheit und Weisheit (Gen 3,5f), doch gerade diese falsche Weltweisheit ist Torheit in Gottes Augen – ein Gegensatz, der dann im Kreuz Jesu seinen Höhepunkt findet. In ihm offenbart sich das „Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes“ (1 Kor 2,7), die aber nur im wahren Glauben als „Glanz der Heilsbotschaft … von der Herrlichkeit Christi“ aufgeht, „der Gottes Ebenbild ist“ (2 Kor 4,4), den Ungläubigen aber als „Torheit“ erscheint (1 Kor 1,23).

 

So ist der Gekreuzigte der neue Adam und Heiland des gefallenen Menschen. Aus seiner geöffneter Seite geht in „Blut“ (Eucharistie) und „Wasser“ (Taufe) die Ekklesia als neue Eva und Braut hervor (Joh 19,30), wie noch die Liturgiekonstitution mit einer bis auf Tertullian (2. Jh.) zurückgehenden Auslegung sagt: „Denn aus der Seite des am Kreuz entschlafenen Christus ist das wunderbare Geheimnis der ganzen Kirche hervorgegangen“ (SC 5). ‚Entschlafen’ ist Christus, so wie der Adam paradisus vor der Entnahme der Rippe zum ‚Bauwerk’ der Frau in einen „Tiefschlaf“ gefallen ist (Gen 2,21).

 

Wie die Kirche die geliebte Braut Christi ist, für die er sich am Kreuz hingibt, um mit ihr ganz „ein Fleisch“ und „ein Geist“ zu sein (Eph 5,25.31f; 4,4; Gen 2,25), und wie er sie so als Haus und Tempel Gottes ‚erbaut’ (unter Mitwirkung der Apostel: 1 Kor 3,10-12), so erweist sich auch Gott im Paradies als liebender „Brautführer“ Evas und weiser „Baumeister“ der Frau, wie Fischer zu Recht feststellt (218). Verwiesen wird für dieses „Entzücken [Adams] über das andere Geschlecht“ (Gen 2,23: „Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch“) auf das Hohelied der Liebe als treffliche Weiterführung der Paradiesgeschichte, wo „ebenfalls vielfach vom ‚Park/ Garten’“ gesprochen wird (220), genauer: achtmal!

 

Das Paradies als „Eden“ (= Wonne, Lust) „lässt ahnen, was Gott eigentlich für uns vorgesehen hat“ (ebd.). Fischer nennt das Paradies „eine Art ‚Vergnügungspark’, den Gott dem Menschen als Lebensbereich auf der Erde, innerhalb ihrer, gibt“ (219). Sicher denkt er dabei nicht an die ‚Freuden’ der Sinne, wie sie in einschlägigen Etablissements mit Namen wie „Eden“ oder „paradise“ angeboten werden, denn gerade dagegen wendet sich der Genesis-Autor. Nicht die Sinnenfreude als solche wird verworfen, sondern die Verblendung, die aus dem falschen Gebrauch der Sinne ohne den wahren Glauben erfolgt.

 

Fischer erkennt richtig, dass die Genesis generell dazu einlädt, die Welt mit den Augen Gottes zu sehen: Abraham soll in das „Land“ ziehen, „das ich dich sehen lasse“ (Gen 12,1), letztlich zurück ins Paradies als Ort der Kontemplation und des wahren Gottesdienstes. Und er erkennt, dass die Genesis das nicht-göttliche Sehen (von Torheit und Unglauben) problematisiert, so eben auch das Sehen des verlockenden Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse (Gen 3,6), den Anblick der Schönheit der Menschentöchter durch die „Gottessöhne“ (Gen 6,2) und das Sehen der Blöße des weintrunkenen Noah durch den zweiten Sohn Ham (Gen 9,22.25), was eine Art zweiter Sündenfall ist. Das rechte Sehen oder den rechten Liebesblick einzuüben, um „in der Gegenwart Glück und Erfüllung in der Gemeinschaft mit Gott zu finden“ (220), ist das, was der Genesis-Autor von der Glaubensgemeinschaft Israel (der Kirche) erwartet, die deshalb konstitutiv in das Verständnis der Bibel hineingehört.

 

Gliederung durch Stammbäume und Altersangaben

Zeitlich umfasst die Darstellung der Genesis von der Weltgründung (anno mundi) bis zum Auszug des 75-jährigen Abram aus dem Vaterhaus Haran 2033 Jahre, die Zeit bis zum Ende der Genesis aber nur 286 Jahre: Gen 1–11 ist von der Textmenge her ein Fünftel gegenüber dem Rest. Daraus folgert Fischer, dass den Patriarchenerzählungen die größere Bedeutung zukommt (83). Doch auch das Allerheiligste ist gegenüber dem Heiligtum und den drei Vorhöfen (der Priester, Israels und der Frauen) nur ein Fünftel, doch zweifellos der wichtigste Teil, weil Ort der Präsenz des heiligen Gottes (1–4-Struktur).

 

Insgesamt sind die Altersangaben „nicht immer chronologisch“ (80). Die zehn „Stammbäume“ (hebr. toledot) in der Genesis seien zwar das „Gerüst der Urgeschichte“ (Claus Westermann) und ein „markantes Gliederungsmerkmal“, doch sei bei ihnen „kein Schema erkennbar“ (74). Demgegenüber hat Weinreb (Schöpfung im Wort, 144-147) gezeigt, dass vier der zehn Stammbäume von Adam bis Mose genau dem Schema der Zahlenstruktur des Tetragramms JHWH = 10-5-6-5 folgen: 10 Generationen von Adam bis Noach, 5 von Schem (1. Sohn Noachs) bis Peleg (= „Teilung“, „Spaltung“), 6 von Regu bis Isaak und 5 von Jakob bis Mose, dem 26. nach Adam, dem dann der Gottesname JHWH offenbart wird.

 

Dabei besteht zwischen dem ersten Teil des Namens J-H = 10-5 (vgl. die 150 Psalmen des Psalters) und dem zweiten Teil W-H = 6-5 ein Gegensatz wie zwischen Mann und Frau, Seele und Körper, Leben und Tod (Weinreb 311). Schon die grundlegende Zehn (Jod) war in 5 und 5 polar gespalten (vgl. die Zehn Gebote auf den zwei Tafeln: 5 + 5), ebenso die Schöpfung in Himmel und Erde (Gen 1,1) oder der eine Mensch „Adam“ in Mann und Frau (Gen 2,21f). Durch die „Verdienste der Väter“ werden beide Teile wieder verbunden zur Einheit (10 ≈ 1), was auch im Bild der „Hochzeit“ und des „Bundes“ gesehen wird. Weinreb stellt fest:

 

„Die Zeit der beiden ersten Geschlechterfolgen umfasst 1658 plus eine Anzahl Tage, die Zeit von diesem Moment bis zum Ende des Pentateuch umfasst 829 Jahre plus eine Anzahl Tage. Und das Besondere daran ist, dass die Periode, die nach 1658 kommt, die Hälfte der Periode von 1658 ist. Sie stehen wieder im Verhältnis 2:1 zueinander. Das ist die Proportion, in der sich der Weg zurück ausdrückt, der Weg von der Zweiheit zur Einheit, dasselbe Verhältnis, dass wir auch im Buchstabenwert Ägyptens [hebr. Mizrajim, 40-90-200-10-40 = 380) bzw. Kanaans [20-50-70-50 = 190] fanden, wobei es sich ebenfalls um ein Gehen von der ‚Zwei’-Welt [= Mondwelt] zur ‚Eins’-Welt [= Sonnenwelt] handelte. Und das ist auch die Entwicklung der Schöpfung, wo nach dem ‚Zwei’-machen in den zweimal drei Tagen der Schöpfung die ‚Eins’-machung am siebten Tag folgte“ (Schöpfung im Wort, 315).

 

Inspiration für Vergangenheit und Zukunft

Die Genesis ist nicht zufällig das am meisten zitierte und kommentierte Buch der christlichen Antike, und im Mittelalter war es das am meisten studierte Buch des Alten Testaments. Bis heute reicht sein Einfluss weit über Kirche und Theologie hinaus in die abendländische Literatur, Kunst, Musik (auch der Koran ist stark davon geprägt, wenn auch mit anderen Akzenten). Zu Recht hebt Fischer besonders die „ausgeprägte universale und internationale Perspektive“ (99) der Genesis hervor, aber auch, dass sie bis heute eine „unerschöpfliche Quelle der Inspiration“ geblieben ist (725).

 

Die Frage nach ihren verschiedenen „Quellen“ – Priesterschrift (P), Jahwist (J), Elohist (E) und anderen –, die die Exegeten mehr als hundert Jahre beschäftigt hat, wird gegen Ende von Fischer diskutiert (686–702) und mit guten Gründen beiseite gelassen, weil die Kriterien zur Unterscheidung nicht geeignet sind und letztlich der Endtext in seiner Einheit entscheidend ist. Fischer nimmt einen Schriftsteller für Gen 1–11 an, wobei die Genesis-Kommentierung auf drei Kommentatoren verteilt den Vorgaben des (Herder-)Verlags geschuldet, im Grunde jedoch unangemessen ist, weil alles einen einzigen Zusammenhang bildet. Die ganze Genesis bestimmt zudem „grundlegend die Deutung alles Folgenden“ (36), sie ist insgesamt „Vorzeichen und [Noten-]Schlüssel für alles Weitere“ (110).

 

Fischer skizziert auch die wichtigsten Referenztexte aus Israels Umwelt, also die altbabylonischen Epen und Schöpfungsmythen wie das Enuma elisch, das Atrahasis-Epos (mit der 7-tägigen Flut) und das Gilgamesch-Epos, wo die Schlange das Kraut der Unsterblichkeit dem Helden regelrecht wegfrisst. Mit Thomas L. Brodie wird gesagt: „In der Genesis gibt es nicht ein Ereignis, das historisch belegt werden könnte“ (34). Was aber folgt daraus? Von welcher ‚Wirklichkeit’ redet die Bibel?

 

Der entscheidende Grundbegriff für das biblische Wirklichkeitsverständnis ist, wie gesehen, die Er-innerung (Anamnesis) des Geistes, die auch und gerade die Zukunft umfasst. Im Weltkatechismus (113) heißt es dazu mit Verweis auf Joh 14,26: „Die Kirche bewahrt ja in ihrer Überlieferung das lebendige Gedächtnis des Gotteswortes, und der Heilige Geist gibt ihr die geistliche Auslegung der Schrift.“ Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.) verweist auf das (in der Liturgie verankerte) „Gedächtnis der Kirche“, mit dem der neutestamentliche Autor „denkt und schreibt, darum ist das Wir, dem er zugehört, offen über das Eigene hinaus und wird im Tiefsten vom Geist Gottes geführt, der der Geist der Wahrheit ist“. „Im Grunde ist hier auch Wesentliches über den Begriff der Inspiration gesagt: Das Evangelium kommt aus dem Erinnern und setzt die Gemeinschaft der Erinnernden…voraus.“ (Jesus von Nazareth I, 276f). Das gilt nicht minder für das Alte Testament. In der Feier der Eucharistie als „Hochzeits-Mahl“ und „Gedächtnis-Mahl“ wird nicht einfach das damalige Geschehen im Sinn eines historischen Faktums erinnert, sondern die Schöpfung ihrer Vollendung im kommenden Reich Gottes zugeführt.

 

Um diese Zukunft zu erreichen, muss der Mensch lernen, wieder aufzusteigen wie Abraham und Isaak auf dem Berg „Mori-jah“ (= Gott ist mein Lehrer) – zu der Opferstätte und dem Ort, wo „sich der Herr sehen“ lässt (Gen 22,14). Eben dort erbaut später der weise Salomo den Tempel für den Opferkult, „das Haus des Herrn in Jerusalem“ (2 Chr 3,1), Mitte und „Nabel der Welt“. Die Septuaginta übersetzt das „Land Morijah“ (Gen 22,2) mit „hochgelegenes Land“; die Vulgata des Hieronymus mit „terram visionis“ (also Land des Sehens); die Kirchenväter deuten Morijah insgesamt als „Ort der Schau“ (Kontemplation), was dasselbe wie Zion bedeutet (vgl. Therese Heither/ Christiana Reemts, Biblische Gestalten bei den Kirchenvätern: Abraham, 2005, bes. 154-173: Gen 22: Das Opfer).

 

Die Spitze des Berges mit der Himmelsöffnung ist wie die Spitze der Arche im geöffneten Fenster der Mittelpunkt der Einheit der Gegensätze im Brandopfer, der vollkommenen Vermittlung von Geist und Materie. Der dabei erscheinende „Widder“ im Baum (Gen 22,13, vgl. das erste Tierkreiszeichen Widder als Frühlingsbeginn und ‚Anfang’) wird von den Kirchenvätern als Hinweis auf das Lamm Gottes „ohne Fehl und Makel“ verstanden, das „schon vor der Erschaffung der Welt“ zum die Welt erlösenden Opfer ausersehen war (1 Petr 1,20; Offb 13,8). Das führt zurück zur ‚kosmischen Eucharistie’ („Seht, das Lamm Gottes“) am sonntäglichen ‚achten Tag’ als Antizipation der ‚ewigen Hochzeit’ als vollkommene Einheit von Schöpfer und Schöpfung in der Liebe.

 

Bibel und Schöpfung als Lobgesang auf den Schöpfer

Der heilige Franziskus preist in seinem Sonnengesang, gedichtet kurz vor seinem Tod (1224), den Schöpfer mit all seinen Geschöpfen (‚Bruder Sonne’ und ‚Schwester Mond’) und den vier Welt-Elementen (Feuer, Luft, Wasser und Erde), die alle auch im Menschen Adam als Mikrokosmos präsent sind (a-d-m = 1-4-40; vgl. bei Fischer die wichtige Darstellung eines Berggottes aus Assur, aus dessen Gefäß in der einen Mitte vier Ströme entspringen, 196). Fischer nimmt auf diesen Lobgesang mehrfach Bezug, auch auf die Enzyklika von Papst Franziskus „Laudato Si“ (2015).

 

Der heilige Poverello hatte ohne wissenschaftliches Bibelstudium ein tiefes Verständnis der Heiligen Schrift, weil er vom Geist inspiriert den tiefen Geist-Sinn der Bibel erfasste, das heißt den göttlichen Sinn im menschlichen Sinn (s. o.). Das war auch bei dem Franziskaner Giorgio Veneto (1466–1540), genannt Zorzi, der Fall. Er besingt in seinem Hauptwerk De Harmonia Mundi (1525), das gegliedert ist in drei „Cantica“ und geordnet nach je acht „Tönen“, im Proömium den Schöpfer durch den ‚archimuseus’ Orpheus (der im Judentum mit dem Sänger David, im Christentum mit Christus identifiziert wird):

 

„Der in klingenden Zahlen jede Einzelheit und das Ganze der Welt bereitete, das ist der Künstler, der sein Werk erst aus der Hand gab, als es die vollendete Harmonie nach den rechten Zahlen in sich enthielt und die Teile zur Oktav sich vereinten; ein Werk, das erst vollendet ist, wenn er nach dem Durchgang durch sechs Mittler [gemeint sind Sekunde, Terz, Quart, Quint, Sext und Septime] das Letzte – was dasselbe ist und doch nicht dasselbe wie das Erste – zu sich zurückruft. Mit dieser Oktav wird die Welt schließlich vollendet; in ihr ist sie vorbedacht, in ihr wird sie schließlich aufgehoben. Der große Baumeister hat das ganze Weltenwerk in den sechs Graden seiner Heiligkeit geschaffen; das hat Mose unter dem Schleier der ,sechs Tage’ dargestellt, und am siebten Tage ruhte Gott. Wenn man den siebten Tag mit dem ersten Tag (...) zusammennimmt, wo er noch bei sich allein war, ist es eigentlich der achte Tag. Und so bleibt das Werk in kunstvollem Wechsel, weil es durch das Band der acht Tage verbunden ist: Denn immer kehrt sich das siebte zum achten, welches ist wie der Anfang und doch nicht der Anfang, zurück. Das Werk Gottes ist in der Oktave konzipiert (...), alles wird durch sie vollendet“ (zit. nach Wilhelm Schmidt-Biggemann, Geschichte der christlichen Kabbala, Bd. I, 2012, 395f).

Klaus W. Hälbig

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Kommentare: 1
  • #1

    Johann Wolf (Dienstag, 19 Februar 2019 09:09)

    Ist dieser Blogbeitrag nicht etwas zu lang? Gruss Johann Wolf