Die Weisheit der Bibel

Herzlich willkommen auf meiner Homepage. Die geistig-geistlichen Impulse auf diesen Seiten zur Bibel orientieren sich in der Regel an den liturgischen Lesungen des jeweiligen Sonntags oder an den kirchlichen Festen. Theologische oder kirchenpolitische Diskussionen werden in unregelmäßigen Zeitabständen unter der Rubrik „Blog“ geführt. Jeweilige Neuerscheinungen werden unter der Rubrik „Bücher“ vorgestellt. Die Seite Youtube bietet gelegentlich Videos zu den jeweiligen Fragen der Zeit wie auch zu den Festen der Kirche. Beabsichtigt ist, eine größere Zahl der Impulse zu biblischen Themen jeweils in einem E-Book zusammenzufassen. Klaus W. Hälbig

Spirituell, intellektuell und mystisch

Fingerzeig

‚Sitientes, venite ad aquas!‘ – ‚Die ihr Durst habt, kommt zu den Wassern!

„Man soll dem christlichen Volke das Alte Testament zurückgeben; es gibt keine notwendigere und dringendere Aufgabe. Man soll dem christlichen Volke diese Hälfte seiner Erbschaft zurückgeben, die man ihm zu rauben sucht; dieses Land der Verheißung, das immer noch von derselben Milch und demselben Honig fließt – aus dem man es zu vertreiben sucht und das ihm doch gehört. Man soll dem christlichen Volke dieses ragende Gebäude zum Gebrauche zurückgeben, entrümpelt von dem ganzen pseudowissenschaftlichen Apparat eigenmächtiger Ergänzungen und frivoler Vermutungen, welche nur dazu dienen, die Gläubigen zu entmutigen, zu verwirren, abzuschrecken und sie derart zu betäuben, daß sie inmitten des lächerlichen Geschwätzes dieser unfähigen Schriftgelehrten nicht mehr den großen Schrei des Propheten vernehmen, der so klar und eindeutig herausklingt: ‚Sitientes, venite ad aquas!‘ – ‚Die ihr Durst habt, kommt zu den Wassern!‘ Man darf den Menschen in dieser herrlichen Schöpfung des Heiligen Geistes und der Weisheit Gottes nicht nur einen verworrenen Haufen wunderlicher Stoffe zeigen, die von der Zeit halb zernagt sind, sondern sie müssen darin das überragende Werk sehen, auf welches die Jahrhunderte keinerlei Eindruck gemacht haben und welches unversehrt und jungfräulich vor uns steht, mit seiner erhabenen und tiefen Komposition und in seiner ursprünglichen Bedeutung, aus der sich der Anruf, genau so mächtig heute wie je, an unser Herz, an unseren Verstand, an unsere Phantasie, an unser Gefühl und all unser Verlangen nach Liebe und Schönheit wendet. (…)

Lesen wir die Heilige Schrift, aber lesen wir sie, wie die Väter sie gelesen, die uns gezeigt haben, auf welche Weise man am besten aus ihr Nutzen ziehen kann... Lesen wir sie nicht mit kritischen Absichten, mit jener albernen Neugier, die nur zur Eitelkeit führt; lesen wir sie mit der Leidenschaft eines hungrigen Herzens! Man hat uns ja gesagt, dort sei das Leben, dort sei das Licht — warum sollten wir nicht versuchen, ein ganz klein wenig von dem Geschmack zu verkosten, den sie verschenken kann? Nicht nur die Majestät des Sinai lädt uns zur Besteigung ein. Sieh dort das frauliche Lächeln, das Lächeln jener Weisheit, jener erhabenen Jungfrau, deren Bild der Herr vor sich hingestellt hat, um den Mut zur Erschaffung dieser Welt zu finden! [Spr 8,22f; Sir 24,9] Sie schauen wir am Ende dieser langen Reihe unvergleichlicher Monumente. Sie ist – seit der Genesis – die wachsende Morgenröte, welche dem Sonnenaufgang vorausgeht. An keiner Stelle des offenbarten Textes erlischt uns Christen dieses göttliche Licht – sei es nun im Alten oder im Neuen Testament. (…) Er [Christus] beherrscht alle Teile des Alten Testaments, dem Er genauso seinen Heiligen Geist eingehaucht hat, wie er das Neue Testament inspirierte. Alle Seiten dieses Buches hat Er gegengezeichnet mit feierlichem Eide: ‚Ego vivo!‘ – ‚Ich lebe!‘“

Paul Claudel (1868–1955), in: Freiburger Rundbrief, IX. Folge, 1956/57, 49f

 

Weisheit: Die Idee Gottes von der Schöpfung

„‘Weisheit‘, das meint die Idee Gottes von der Schöpfung, das meint Gottes schöpferisches Wort, meint die innere Ordnung der geschaffenen Welt, die Gesetze, die man aus der Schöpfung ablesen kann, und das menschliche Handeln, sofern es sich in diese Ordnung einpasst. All dies hängt zusammen und erscheint in Ägypten etwa als die Göttin Maat, und auch in Israel tritt es personifiziert auf als die ‚Frau Weisheit‘. Sie ist das erste Geschöpf Gottes, bei der Schöpfung spielte sie vor Gott, und ihre Wonne ist es, bei den Menschenkindern zu sein (Spr 8,22-31). Wer die Weisheit findet, der findet das Leben (Spr 8,35). Nach dem Buch Jesus Sirach war nun diese Weisheit zwar bei der Schöpfung der Welt dabei, und insofern kann sie auch von allen Menschen und zu allen Zeiten in der ganzen Schöpfung gefunden werden. Aber sie suchte sich dann doch einen besonderen Wohnsitz, und sie fand ihn im Volk Israel. Und zwar lässt sich dann noch viel genauer angeben, wie man ihr dort begegnen kann: ‚Das gilt vom Bundesbuch des Höchsten, vom Gesetz, das uns Mose geboten hat‘ (Sir 24,23). Hier haben wir den Ansatz zu einer Offenbarungstheorie, die mindestens die christliche Theologie bis heute bestimmt hat. Sie unterscheidet zwischen einer allgemeinen und einer besonderen Offenbarung Gottes. Oft wird auch von einer natürlichen und übernatürlichen Offenbarung gesprochen.“

Norbert Lohfink, Unsere großen Wörter. Das Alte Testament zu Themen dieser Jahre (Freiburg u. a. ³1985, 142)

 

Die Weisheit ist jedem zugänglich, unabhängig von Herkunft und Bildung

„Nicht die Intelligenz oder sein umfangreiches Wissen, noch seine Verstandesschärfe machen einen Menschen weise, so die Tradition vieler Völker. Sie ist jedem zugänglich unabhängig von Herkunft, Beruf und Bildungsgrad. (…) Spätestens seit der Neuzeit soll die Wissenschaft das letzte Wort haben, nicht die Weisheit. Dies selbst in der Philosophie, die sich als ‚Liebe zur Weisheit‘ ihren Weg bahnte. G.W.F. Hegel hat dafür die berühmte Parole ausgegeben, dass die Philosophie ‚ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen‘ und ‚wirkliches Wissen‘ – ‚Wissenschaft‘ – werden sollte [Phänomenologie des Geistes, 1807, Vorrede]. Am Beginn des 20. Jahrhunderts hat E. Husserl sekundiert: ‚Die Wissenschaft hat gesprochen, die Weisheit hat von nun ab zu lernen‘ [Philosophie als strenge Wissenschaft, 1910/11]. Können wir diesem Satz noch folgen oder brauchen wir eine lebensnotwendige Kehre am Beginn des 21. Jahrhunderts?“

Ludger Schulte/ Thomas Möllenbeck, Weisheit. Spiritualität der Menschheit, 2021 (Vorwort)


Geistvergessenheit in der westlichen Kirche und Theologie

Die westliche Kirche und Theologie leidet seit der Frühen Neuzeit unter einer gewissen „Geistvergessenheit“; dem Einheit und Ordnung stiftenden Wirken des Heiligen Geistes lassen sich vier Bereiche als „Vermittlungsgestalten zuordnen (im Uhrzeigersinn je um ein Vierteil vorangehen und kreuzförmig verbinden):

 

  1. „Weisheit“ der vom Geist inspirierten Bibel: Erleuchtung, Verlebendigung, Bildung, Tröstung, Heilung (konkret: Maria als „Sitz der Weisheit, Engel, Heilige, Mystik, Mystagogie, geistige Exegese);
  2. Kult“ der „Kirche“ des Neuen Bundes in der vom Heiligen Geist getragenen Er-innerung: Verinnerlichung, Überlieferung, Segnung, Heiligung (konkret: Liturgie, Ritual, Sakramentalität, Tempel, Priestertum);
  3. „Kultur“ als Geist-Inspiration: wahre Schönheit, innere Motivation, Sendung (Mission) und Inkulturation (konkret: begnadete Kunst, Bildwelten des Mythos, Symbol, Sprache, Musik, Prophetentum, Apostolizität);
  4. „Kosmos“ und (Neu-)Schöpfung“ als Ordnung der göttlichen Weisheit in der Bewegung auf Gott hin: Zielausrichtung, Gesetz, Naturrecht, Naturreligion, Ordnung (konkret: Fest, Sabbat-Sonntag, Festkalender).

Die Bibel wurde als bloße „Literatur“ verweltlicht, der Kult der Kirche „entsakralisiert“; die Kultur hat ohne den Kult der Kirche keine innere Mitte mehr, und der Kosmos hat seinen Bild- und Offenbarungscharakter verloren. Als „geisterfüllt“ verstanden durchdringen sich die vier Bereiche kreuzförmig (zweimal innen, zweimal mehr außen) und erfüllen so ihre Mittlerfunktion zwischen Gott und Welt, wie auch Jesus nur als der Geist-Gesalbte (Messias der „Mittler zwischen Gott und den Menschen“ sein kann (1 Tim 2,5).

Im „Kreuz“ sind alle vier Bereiche (vier Kreuzenden) vereint; deshalb ist es das Zeichen der Vermittlung schlechthin. Das Kreuz steht für Tod und Auferstehung/ Wiedergeburt/ Neuschöpfung (Röm 6). „Wer wiedergeboren werden will, muss zuerst sterben“ (Yamabushi-Meister Kato Takeharu). Das gilt universal für alle Initiations-Religionen. Das Kreuz offenbart „das Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes“ (1 Kor 2,7).

 

Im Dienst der Katechese unter dem Leitwort der göttlichen Weisheit

Papst Franziskus hat mit dem am 11. Mai 2021 veröffentlichten Dekret „Antiquum ministerium“ den Dienst des Katecheten als dauerhaftes Laienamt in die katholische Kirche eingeführt und damit einen „alten Dienst“ in neuer Form aufgewertet und gewürdigt. Die biblischen „Impulse“ auf diesen Seiten verstehen sich als Kurzkatechesen mit den Blog-Beiträgen als Vertiefung und damit auch als eine theologische Hilfestellung für den neu-alten Dienst des Katecheten. Unter dem Leitwort der „Weisheit“ geht es über die Bibelwissenschaft hinaus um die sinnliche Dimension der biblischen Bildwelten in Liturgie, Kunst und Glaubenserfahrung, besonders auch von Mystikern und Heiligen, als „theologischem Erkenntnisort“. Weisheit ist die erste der sieben Gaben des Heiligen Geistes, „damit wir unser letztes Ziel immer vor Augen haben“ (Alfred Delp SJ). Ein besonderer, meist vernachlässigter Aspekt der göttlichen Weisheit sind die „heiligen Zahlen“ als Urprinzipien der Ordnung in Schöpfung und Offenbarung, die im Hebräischen mit den 22 Buchstaben des Aleph-Beths identisch sind. Noch dem christlichen Mittelalter war die Zahl Offenbarungsträger: „Die Ordnung der Zahlen bildet die in der Welt selbst präsente Form der Weisheit Gottes, die vom menschlichen Geist erkannt werden kann“ (Heinz Meyer).

 

In der Liturgie sind die biblischen Worte immer Gegenwart

Die Bibel wird von der heutigen Bibelwissenschaft „historisch-kritisch“ erklärt, das heißt in „skeptischer“ und „kritischer“ Distanz als ein im Grunde „fremdes“, in einem historischen Kontext enstandenes Zeitdokument. In der alten geistig-geistlichen Exegese war sie das „Wort Gottes“ für die Gegenwart und Zukunft der eigenen Lebensgestaltung, wobei der Kirche als „Rezeptionsgemeinschaft“ die entscheidende Rolle bei der „Sinnfestlegung“ zukam. Auch die einzelnen Autoren der Schrift gehören in diesem Sinn zur Kirche, dem „gemeinsamen Subjekt des Gottesvolkes“, das sich von Gott angeredet weiß, „der im Tiefsten – durch Menschen und ihre Menschlichkeit hindurch – da redet“ (Benedikt XVI., Jesus von Nazareth I, 19f). „Die Volk Gottes – die Kirche – ist das lebendige Subjekt der Schrift; in ihr sind die biblischen Worte immer Gegenwart. Freilich gehört dazu, dass dieses Volk sich selbst von Gott her, zuletzt vom leibhaftigen Christus her, empfängt und sich von ihm ordnen. Führen und leiten lässt“ (20). Die biblischen Hagiographen sind keine autonomen Schriftsteller im heutigen Sinn, sondern sie wissen sich eingefügt in das Gottesvolk des Alten und Neuen Bundes in dem einen Geist, „der euch zusammenhält“ (Eph 4,3).

 

Die Kirche ist konstitutiv für die Auslegung der Heiligen Schrift

Diese Position des früheren Papstes ist nicht ‚vorkritisch‘, sondern ‚postkritisch‘, weil nach der neueren Kultur- und Literaturtheorie das Subjekt des Verstehens immer schon kulturell geformt ist, also nicht autonom in sich steht, sondern Teil der Rezeptionsgemeinschaft ist. Daraus folgt: „Die Ekklesiologie ist also konstitutiver Bestandteil der Schriftauslegung, und diese wiederum ist eingebunden in die Theologie. Anthropologie, Ekklesiologie und Theologie greifen in der Schriftauslegung ineinander. Niemand kann die Bibel außerhalb der Gemeinschaft lesen. Die Frage ist, welcher Gemeinschaft er zugehört und woher sich diese Gemeinschaft formen lässt. (…) Letztlich muss sich derjenige, der die Schrift verstehen will, von jener göttlichen Wirklichkeit formen lassen, die in der Schrift bezeugt wird. Für die christliche Theologie konkretisiert sich dies in der Gestalt Jesu“ (Ludger Schwienhorst-Schönberger). Damit wird der kritische „Beobachter“ zum ergriffenen „Teilnehmer“ des Geschehens, von dem die Bibel erzählt, was er in dem Maße ist, wie er von ihrem Geist erfüllt wird.

 

Die Heilige Schrift ist in dem Geist auszulegen, in dem sie geschrieben wurde

Von daher sagt Benedikt XVI. mit Blick auf den heiligen Franziskus: „Die Heiligen sind die wahren Ausleger der Heiligen Schrift. Was ein Wort bedeutet, wird am meisten jenen Menschen verständlich, die ganz davon ergriffen wurden und es gelebt haben. Die Schrift trägt überall ein Zukunftspotential in sich, das sich erst im Durchleben und Durchleiden ihrer Worte öffnet“ (Jesus von Nazareth I, 108). Die großen Theologen der antiken und mittelalterlichen Kirche waren alle auch Heilige, deren Schriftauslegung in der Kirche nicht einfach überholt ist, weil die Kirche als „Gemeinschaft der Heiligen“ im „lebendigen Gedächtnis“ des Heiligen Geistes ihrer heiligen Männer und Frauen stets eingedenk bleibt. Mit einem Wort: Die Heilige Schrift ist in dem Geist zu lesen und auszulegen, „in dem sie geschrieben wurde“ (II. Vatikanum, Die dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum 12). (Niemand) möge glauben, ihm genüge die Lesung ohne Salbung [des Geistes], die Spekulation ohne Hingabe, die Forschung ohne Verehrung, die Umsicht ohne Begeisterung, die Wissenschaft ohne Liebe, der Verstand ohne Demut, das Studium ohne die göttliche Gnade, die Beobachtungsgabe ohne die göttlich inspirierte Weisheit (der heilige Kirchenlehrer Bonaventura, vgl. das Dekret Optatam totius 16).