Ostern: Vom jüdischen zum christlichen Pascha

Bild: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir“ (Ps 42,2): Mosaik des Paschalammes auf dem Paradiesberg mit den vier Paradiesströmen(Kardinaltugenden) und trinkenden Hirschen, Kapelle des Zeno in der frühmittelalterlicher Basilika Santa Prassede in Rom nahe der Basilika Maria Maggiore.

 

Am Samstag (16. April 2022), dem ersten Frühlings-Vollmond, beginnt das jüdische Osterfest (Pessach) mit der Erinnerung an die Befreiung Israels aus ‚Ägypten‘; am Sonntag danach feiern Christen die Auferstehung Jesu, den Paulus „unser Osterlamm“ nennt (1 Kor 5,7), als Befreiung von Sünde und Tod. Beide in diesem Jahr zeitlich zusammenfallenden Feste hängen auch theologisch eng zusammen, das christliche setzt das jüdische voraus, beide unterscheiden sich aber auch wesentlich.

 

Die Neuschaffung Israels von seinem Ursprung her

Die Nacht von Ostern (Samstag auf Sonntag) ist liturgisch die ‚Nacht der Nächte‘, weil sich mit der Auferstehung Jesu von den Toten jetzt endgültig das Licht des „Tages Eins“ (Gen 1,3) gegen die ‚Finsternis‘ von Ursünde, Tod und Teufel siegreich durchsetzt (2 Kor 4,6). Schon die Erschaffung des Urlichts war eine „Kampfansage“ (Renate Brandscheidt) gegen die widergöttlichen Mächte von Finsternis und Urflut, Tohu Wabohu-Erde und die ‚Wasser‘ (Gen 1,2). Dieser Kampf steht auch im Hintergrund des jüdischen Paschafestes; Joseph Ratzinger schreibt:

„Im Kalender der Nomaden, von denen Israel das Paschafest übernommen hat, war Pascha der Neujahrstag, der Tag also, an dem die Schöpfung von neuem gegründet werden, an dem sie neu verteidigt werden musste gegen das heraufbrandende Nichts. (…) Pascha sollte diese jährliche Rückkehr Israels aus den Gefährdungen jenes Chaos, die in jedem Volke lauern, zu dem sein, was es trägt und gründet, seine immer wiederkehrende Verteidigung und Neuschaffung von seinem Ursprung her“ (Das Pascha Jesu und der Kirche, in: Schauen auf den Durchbohrten, 1984, 87-92, 87f).

 

Söhne des Lichts und des Tages, nicht der Nacht und der Finsternis

Innerer Grund für die Erschaffung der Welt durch den göttlichen Logos und den Geist Gottes ist der Bund des Feuers (Berith-esch), der im ersten Wort Bereschith (‚im Anfang‘) schon anklingt. Der drei-eine Gott erschafft die Zweiheit von Himmel und Erde aus Liebe für die Liebe, das heißt für die ‚hochzeitliche‘ Einswerdung des Menschen als Bild Gottes und ‚Krone der Schöpfung‘ (Ps 8,6f) mit ihm und untereinander. Die Menschen sollten „Kinder des Lichts“ (Eph 5,8) beziehungsweise „Söhne des Lichts und Söhne des Tages“ sein, die „nicht der Nacht und nicht der Finsternis“ gehören, „nicht schlafen wie die anderen, sondern wach und nüchtern“ sind (1 Thess 5,5). Aber schon der Verklärung Jesu „in strahlendem Licht“ auf dem Berg waren die auserwählten drei Apostel Petrus, Johannes und Jakobus eingeschlafen (Lk 9,32), ebenso dann beim Gebet Jesu unmittelbar vor seiner Passion im Garten Getsemani (‚Ölpresse‘), so dass sie Jesus zurechtweist: „Steht auf und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet“ (Lk 22,46).

Das Osterfest wird vorbereitet durch eine 40-tägige Fastenzeit (ohne die Sonntage), die an die 40-jährige Wüstenwanderung des Volkes Israel nach seinem Exodus aus ‚Ägypten‘ erinnert sowie an das 40-tägige Fasten Jesu in Wüste, wo er dreimal vom Teufel in Versuchung geführt wird. Schon hier bleibt er siegreich: „Er lebte bei den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm“ (Mk 1,13). Mit ihm als dem neuen Adam ist der verheißene Tierfrieden des messianischen Königreiches angebrochen (Jes 11,1-16), die ursprüngliche Tierherrschaft (Triebherrschaft) des Menschen im Garten Eden mit dem paradiesischen Frieden der umfassenden Harmonie aller Gegensätze. Mit der siegreichen Auferstehung ist der Frieden wiederhergestellt, der „alles Verstehen übersteigt“ (Phil 4,7): „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch“ (Joh 14,27).

 

Weihnachten und Ostern feiern dasselbe Mysterium der Erlösung

Schon an Weihnachten verkünden die Engel auf den Fluren Bethlehems diesen Frieden zwischen Gott und den „Menschen seiner Gnade“ (Lk 2,14). Das zeigt, dass das Weihnachtsfest, das sich erst rund 300 Jahre nach dem Osterfest entwickelte und diesem nachgebildet wurde, im Kern dasselbe feiert wie Ostern. Gleichwohl ist es sehr viel beliebter, weil es in der Neuzeit zu einem privaten, bürgerlichen und unverbindlicheren Familienfest geworden ist mit Christbaum und Krippenspiel, Christkindlesmarkt sowie dem Einkaufen und Schenken zahlreicher Präsente.

Zwar ist auch das Kind in der Futterkrippe von Tieren „elend, nackt und bloß“ (GL 247,2), kommt Gott in seinem Sohn in eine finstere, vom Tod und von mordenden Königen (wie Herodes beim ‚Knabenmord‘ von Bethlehem) beherrschte Welt – Krippe und Kreuz sind aus demselben ‚Holz‘. Aber dieses auch an Weihnachten auftauchende Widergöttliche wird stark überlagert von der großen Freude über das neugeborene ‚Kindelein‘ mit seiner Mutter Maria.

Die Jungfrauengeburt antizipiert dabei im Grunde schon die Auferstehung, ebenso die Epiphanie als zweites Weihnachtsfest; im Vordergrund steht jedoch mehr das Liebliche und Herzerwärmende der ‚Heiligen Nacht‘ mit dem in himmlischer Ruh schlafenden „holden Knaben im lockigen Haar“ (GL 249,1) im Unterschied zur Osternacht mit dem Osterfeuer und der Auferweckung des Gekreuzigten, auch wenn sie der eigentliche Ort der Taufe ist als ‚Wiedergeburt‘ im Wasser und Feuer des Heiligen Geistes (Lk 3,16).

Ostern ist ein Weckruf (Eph 5,14: „Wach auf, du Schläfer, wach auf von den Toten, und Christus wird dein Licht sein“), Weihnachten kaum noch, auch wenn es im (Advents-)Lied von Philipp Nicolai (1597/98) heißt: „‘Wachet auf‘, ruft uns die Stimme/ des Wächters sehr hoch auf der Zinne…“ – ein Wachwerden für das freudige Erwarten des zur mystischen Hochzeit mit dem himmlischen Jerusalem kommenden göttlichen Bräutigams (GL 554,1). Dieser ist das Lamm Gottes, „das hinwegnimmt die Sünde der Welt“ (Joh 1,29; vgl. 3,29; Offb 19,7), das geopfert ist als „unser Paschalamm“ (1 Kor 5,7).

 

Beim Pascha vollziehen alle den priesterlichen Opferdienst

Pascha ist die aramäische Form von hebr. pessach, was vermutlich ‚hüpfen‘, ‚tanzen‘, ‚überspringen‘ bedeutet im Sinn des schonenden Vorübergehens der mit dem Blut des Paschalammes gekennzeichneten Häuser der Israeliten durch JHWH (Ex 12,13.23.27). Die Vulgata übersetzt mit transitus Domini, die Septuaginta bevorzugt Pascha (vgl. Herbert Haag, Vom alten zum neuen Pascha. Geschichte und Theologie des Osterfestes, 1971, 26). Nach Philo von Alexandrien schlachtete das ganze Volk Israel zum Paschafest „vom Mittag bis zum Anbruch der Nacht viele tausend Opfertiere…, und zwar die ganze Gemeinde, jung und alt; denn für diesen Tag ist ihnen allen Priesterrang verliehen“; ihnen ist die Befugnis eingeräumt,

„Opferdienst und Priesteramt zu versehen. Der Grund … ist folgender: Das Fest ist der dankbaren Erinnerung an die größte Auswanderung gewidmet, (den Auszug) aus Ägypten, den mehr als zwei Millionen Menschen beiderlei Geschlechts gemäß dem an sie ergangenen Gottesworte antraten. Damals nun, als sie ein Land voll Menschenhass und Ungastlichkeit verließen, … brachten sie, wie begreiflich, im Überschwange der Freude selbst ihre Opfer dar, ohne in ihrem unsagbaren Eifer und Wunsch nach möglicher Beschleunigung erst auf die Priester zu warten. Und wie sie es damals dem Drang und Trieb des Herzens folgend taten, so erlaubte ihnen das Gesetz zur dankbaren Erinnerung daran einmal in jedem Jahr zu verfahren… Jedes Haus erhält zu dieser Zeit den Charakter und die Weihe eines Heiligtums; denn das geopferte Tier wird zu weihevollem Mahle zubereitet und die Teilnehmer an diesem Festmahle haben sich mit heiligem Sprengwasser gereinigt: sie sind ja nicht zusammengekommen, um wie bei sonstigen Gelagen ihrem Leib mit Wein und Speisen zu Willen zu sein, sondern um der Väter Brauch unter Gebeten und Lobgesängen zu erfüllen“ (De specialibus legibus II, 145-161, zit. ebd. 39f).

Verbunden ist Pascha mit dem siebentägigen „Fest der Ungesäuerten Brote“ (vgl. Lev 23,4-7), dass Philo damit erklärt, dass die Erntezeit noch nicht gekommen war und das noch ungesäuerte Brot der noch nicht zur Reife gelangten Frucht entsprechen soll: „Und es soll schöne Hoffnung in uns wecken in dem Gedanken, dass schon die Natur die jährlichen Gaben für die Menschheit rüstet, um ihr ihren Lebensbedarf in Hülle und Fülle zu gewähren. Es wird aber auch noch folgender Grund von den Erklärern der heiligen Schrift angeführt: die ungesäuerte Kost ist eine Gabe der Natur, die gesäuerte ein Kunsterzeugnis; … Da nun das Frühlingsfest … an die Entstehung der Welt erinnern soll, und die ersten erdgeborenen Menschen und deren Kinder die Gaben des Weltalls natürlich unverändert genossen, da die Lust noch keine Gewalt über sie besaß, so schrieb das Gesetz für diese Festzeit die Kost vor, die ihr am besten entspricht“ (ebd.).

 

Der Widder: kosmisches Urbild des Paschalammes

Der Frühling als Jahres- und Schöpfungsanfang für die Nomaden spiegelt sich auch in dem Widder/Lamm, dessen kosmisches Urbild das erste Tierkreiszeichen Widder als Frühlingsbeginn im ersten Monat Nisan ist (Ex 12,2). „Bei den Israeliten musste die Feier in der Nacht vom 14. auf den 15. des Frühlingsmonats, also beim Frühlingsvollmond, stattfinden. (…) Das Pesach war zweifellos von Anfang her an den Vollmond nach der Tag- und Nachtgleiche des Frühlings gebunden, während das parallele Datum im Herbst für das Laubhüttenfest (Lev 23,39) späterer Herkunft ist, wohl als beabsichtigte Entsprechung zum Pesach“ (49, Anm. 137). „Der Mondgottheit wurde ja im besonderen die Fruchtbarkeit zugeschrieben“ (50). „In Ur wurde der Mondgott unter dem Bild eines goldenen Kalbes mit mondsichelförmigen Hörnern verehrt. Er wird im Gebet angeredet als ‚starkes Jungrind mit mächtigen Hörnern‘, als ‚Mutterschoß, der alles gebiert‘“ (51, Anm. 142).

 

Pascha als Fest des Erinnerns und Erzählens

Das Paschafest ist ein „Gedenktag“ (Ex 12,14) im Sinn von „Gedächtnis“ (hebr. zikkaron), weil alle Festteilnehmer durch die rituelle Vergegenwärtigung „in dieses Heilsgeschehen einbezogen werden und selbst an der Erlösung Anteil erhalten“ 60): „Heute im Monat Abib seid ihr weggezogen“ (Ex 13,4; vor dem Exil hieß der Frühlingsmonat Abib; vgl. 62). „Das Fest wird im Frühling begangen, weil Israel im Frühling aus Ägypten zog [vgl. Dtn 16,1]; es besteht in einer nächtlichen Feier, weil der Auszug bei Nacht erfolgte“ (61). Das Deuteronomium setzt „das Pesach an die Stelle des Mazzenfestes“ (79) und macht es zum ersten von drei Wallfahrtsfesten für das ganze Volk (82). „In biblischer Zeit wurden am Nachmittag des 14. Nisan die Lämmer im Tempel geschlachtet (…) Die Priester stellten sich in zwei langen parallelen Reihen auf vom Eingang des Vorhofs bis zum Brandopferaltar, ausgerüstet mit goldenen und silbernen Schalen“ (109f). Gold und Silber sind die Farben von Sonne und Mond. Das Erzählen der Befreiung aus Ägypten ist Pflicht und „ein wesentlicher Bestandteil des Pesachritus. Dieser ist ja Gedächtnis des Auszugs aus Ägypten, seine sakramentale Vergegenwärtigung“ (113). In der Mischna wird vorgeschrieben, „dass in der Pesachfeier für die Tischgenossen die Vergangenheit zur Gegenwart werde“:

„In jedem Zeitalter ist jeder verpflichtet, sich so anzusehen, als wäre er selbst aus Ägypten ausgezogen… Er (Gott) hat uns herausgeführt aus der Knechtschaft in die Freiheit, aus dem Kummer in die Freude, aus der Trauer in die Festlichkeit, aus der Finsternis in das große Licht und aus der Knechtschaft in die Erlösung. Wir wollen vor ihm sprechen: Halleluja!“ (zit. ebd. 115). „Für die jüdische Theologie umschließt also das Pesach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die vergangene wie die zukünftige Heilstat Gottes wird für die Feiernden zur gegenwärtigen Heilstat. (…) ‚Gedächtnis‘ bedeutet … nicht bloße Erinnerung an das geschichtliche Geschehen, sondern dessen sakramentale Vergegenwärtigung. Das Heil der Vergangenheit wird durch seine liturgische Darstellung zum gegenwärtigen Heil. Dies ist der Sinn der Anweisung Ex 12,42: ‚Eine Wachenacht war es für Jahwe, um sie aus Ägypten herauszuführen.‘ (…) Wie einst Jahwe gewacht hat in der Nacht, um Israel zu retten, so soll Israel durch alle Geschlechter wachen in der Nacht, um dieser Rettung teilhaftig zu werden. (…) Somit kommt der israelitischen Pesachfeier jene dreifache Sinnhaftigkeit zu, die Thomas von Aquin dem Sakrament zuerkennt. Es ist commemoratio praeteriti, demonstratio praesentis et prognosticum futuri: ein Gedächtnis des Vergangenen, ein Erweis des Gegenwärtigen und ein Kennzeichen des Zukünftigen. Daher ist es voll berechtigt, das Pesach ein Sakrament Israels zu nennen“ (115-117).

 

Der Paschacharakter des letzten Mahles Jesu

Jesu Abschiedsmahl mit den zwölf Aposteln als Repräsentanten des neuen Israel in der Nacht vor seiner Passion war bei den Synoptikern im weiteren Sinn ein Paschamahl (ob streng rituell durchgeführt, dazu stilisiert oder antizipiert kann offenbleiben). Auf den 14. Nisan fielen wahrscheinlich der Freitag am 7. April des Jahres 30 und der Freitag am 3. April des Jahres 33, „was der johanneischen Chronologie entsprechen würde“ (Joachim Jeremias, zit. ebd. 122, Anm. 376). Nur in Lk 22,15 wird das Lamm erwähnt. Aus diesen und anderen Gründen kommt Heinz Schürmann nur zu dem Schluss „auf den Festcharakter des letzten Mahles Jesu“ (zit. ebd. 126).

„Dass in der synoptischen Überlieferung dennoch ein starkes Interesse am Paschacharakter des letzten Mahles Jesu zum Ausdruck kommt, lässt sich aus theologischen und liturgischen Motiven erklären. Nachdem der am Pascha [synoptisch] oder Rüsttag [johanneisch] geschehen Tod Jesu einmal als das wahre Paschaopfer verstanden wurde, lag es nahe, das Herrenmahl mit seinem Gedächtnis des Sterbens Jesu entsprechend als Paschamahl zu deuten und somit auch das letzte Mahl Jesu als Paschamahl zu stilisieren. (Der) johanneischen Tradition, wonach das letzte Mahl Jeu kein Paschamahl war, ist die griechische Kirche gefolgt, die die Eucharistie immer mit gesäuertem Brot gefeiert hat. Vor allem die Tatsache, dass Jesus nach der Chronologie des vierten Evangeliums ungefähr zu der Zeit gekreuzigt wurde, da im Tempel die Paschalämmer geschlachtet wurden, zeigt, dass Johannes, wie Paulus, die Paschatypologie im Tod Jesu erfüllt sieht. Jesus ist ‚das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt‘ (Joh 1,29). Dass dem Gekreuzigten kein Bein zerbrochen wird, ist eine Erfüllung des Schriftwortes, das verbietet, dem Paschalamm einen Knochen zu brechen (19,36, vgl. Ex 12,46). Wie für Paulus die Eucharistie nicht ein christliches Paschamahl, sondern Gedächtnis des Todes des Herrn und des in diesem gestifteten Neuen Bundes ist (1 Kor 11,23-26), so sieht auch das Johannesevangelium den Ursprung der Eucharistie nicht im Paschamahl, sondern im Kreuzestod Jesu begründet (19,34)“ (129-132).

Auch der der Schwamm mit Essig, den man dem Gekreuzigten auf einem Ysopzweig reicht (Joh 19,29), erinnert an den Ysopzweig, mit dem das Blut der geschlachteten Lämmer auf die Türpfosten der Israeliten als Schutzzeichen zu streichen war (Ex 12,22). Die frühe Kirche folgt weitgehende Johannes und Paulus. „Den ehrwürdigen Namen Pascha hat vielmehr in der christlichen Sprache nicht das eucharistische Mahl übernommen, sondern jenes eine große Fest, an dem die Kirche des Todes und der Auferstehung ihres Herrn gedenkt“ (134). „Dennoch wird die Eucharistie mit Recht Pascha genannt, nicht weil sie das alttestamentliche Paschamahl fortsetzt und erfüllt, sondern weil in ihr das vollendete Paschamysterium sakramental begangen wird; der große Aufbruch aus der Knechtschaft der Sünde in das neue Leben der Freiheit im Gedächtnis (Anamnesis) des Todes und der Auferstehung des Herrn…“ (136).

 

Das Blut des Lammes entspricht dem Blut der Beschneidung

Herbert Haag erwähnt nicht, dass das Blut des Lammes dem der Beschneidung am ‚achten Tag‘ als Zeichen des Bundes entspricht (vgl. Ex 12,48). Im Midrasch Pirkei von Rabbi Eliezer heißt es: „’Alle, die Ägypten verließen, waren beschnitten’ (Josua 5). Sie nahmen das Blut der Beschneidung und das Blut des Pessachlammes und strichen es auf die Pfosten ihrer Türen“ (zit. nach Gesa Ederberg, „Durch dein Blut sollst du leben“, in: Johannes Heil/ Stephan J. Kramer [Hg.], Beschneidung: Das Zeichen des Bundes in der Kritik, 2012, 199-204, 201). Die Beschneidung ist dabei „die Voraussetzung für die (männliche!) Kultfähigkeit“ (ebd. Hanna Liss, Und auch meine Shabatte gab ich ihnen…, 51-60, 59; Klammer im Original). Der Bund selbst wird als ‚kultische Beziehung’ verstanden.

In der „400 Jahre“ dauernden ‚Knechtschaft‘ in ‚Ägypten‘ (Gen 15,13) als Symbol der dem Tod verfallenen Welt oder des ‚sechsten Tages‘ ist die Kultfähigkeit nicht gegeben, erst der Auszug der „600 000 Mann“ (Ex 12,37), verfolgt von den „600 Streitwagen“ des Pharao (Ex 14,7), und damit der Einzug in die ‚Wüste‘ als Symbol des ‚siebten Tages‘ und Zeichen des Bundes macht das priesterliche Israel kultfähig (Ex 19,6). Das Gelobte Land symbolisiert das ewige Leben des ‚achten Tages‘ (der Auferstehung) der kommenden Welt, der mit dem Kommen des Messias, vorausgebildet durch Josua (lat. Jesus) als „Sohn des Nun“ (Dtn 34,9), das heißt der Fünfzig, für das Volk des Neuen Bundes durch den ‚Exodus‘ von Kreuz und Auferstehung erschlossen wird.

 

Die eine Nacht des Wachens umfasst vier Nächte

Die „eine Nacht des Wachens“ bei der Paschafeier umfasst näher hin vier Nächte: 1. Die Nacht bei der Erschaffung der Welt durch das Licht; 2. die Nacht, in der dem 100-jährigen Abraham Isaak geboren wird, den er als 37-Jährigen gehorsam opfert; 3. die Nacht, in der Gottes (linke) Hand die Erstgeborenen ‚Ägyptens‘ tötet, während die rechte Hand Israel umhegt, „damit erfüllt werde, was die Schrift sagt: ‚Mein erstgeborener Sohn – das sind die Israeliten‘ (Ex 4,22)“; 4. die Nacht der Befreiung der Welt durch den König-Messias (vgl. Clemens Thoma, Memoria der Rettung – Feier des Glaubens im Judentum, in: Angelus A. Häußling [Hg], Vom Sinn der Liturgie. Gedächtnis unserer Erlösung und Lobpreis Gottes, 1991, 45-61, 52f).

Die sieben Lesungen aus dem Alten Testament in der christlichen Osternachtfeier sprechen daher nicht nur vom Durchzug durch das Rote Meer und vom neuen, im Wasser des Geistes gereinigten Herzen, das Gott erschafft (Ez 36,16-28), sondern auch von der Erschaffung der Welt durch das Wort und von dem Opfer Abrahams, das die jüdische Liturgie auf den 14. Nisan datiert, außerdem vom neuen Jerusalem und vom ewigen Bund (Jes 54 und 55) sowie vom Weg der göttlichen Weisheit in der Schöpfung und in Israel (Bar 3). Das Blut des Widders beziehungsweise des Lammes sowie der Beschneidung an der ‚Tür‘ (hebr. Dalet = Vier) ist „ein Zeichen, dort, wo man aus Mizraim [Ägypten] auszieht“ (Friedrich Weinreb, Das Buch von Zeit und Ewigkeit. Der jüdische Festkalender und seine Feste, 1991, 65).

 

Die sieben Ostertage als Muster der sieben Welttage

Zur siebentägigen Festzeit von Pascha schreibt Weinreb: „Diese sieben Tage von Ostern beinhalten natürlich das Muster der sieben Tage dieser Welt hier, wobei der erste Tag der Auszug aus Mizraim ist und der siebente Tag der Durchzug durch das Meer, das sich teilt. Und am achten Tag des biblischen Ostern ist man eigentlich am jenseitigen Ufer und blickt in die andere Welt“ (60). Diesen ‚achten Tag‘ gibt es als ‚Wirklichkeit‘ und Wahrheit aber erst mit der Auferstehung Christi. Der die Taufe präfigurierende Durchzug durch das Wasser (am 7. Tag) wird auch als der „Augenblick der Geburt“ verstanden, „das heißt der Moment, in dem beim Kind die Nabelschnur durchschnitten wird. Das ist die Ankunft an der anderen Seite“ (61).

Die Heilsgeschichte vollzieht immer den Dreischritt von „Schatten“ (hebr. zel), „Bild“ (zelem) und „Wahrheit“ (emeth, 1-40-400) oder vom sechsten über den siebten zum achten Tag. „Denn das Gesetz enthält nur einen Schatten der künftigen Güter, nicht die Gestalt der Dinge selbst; darum kann es durch die immer gleichen, alljährlich dargebrachten Opfer die, die vor Gott treten, niemals für immer zur Vollendung führen“ (Hebr 10,1; vgl. 8,5; Kol 2,17). Vor diesem Hintergrund hat Melito von Sardes (2. Hälfte 2. Jh.) in der ältesten erhaltenen, erst 1940 entdeckten Paschahomilie „die jüdische Passahtradition umfassend typologisch mit der christlichen Ostertradition“ verglichen (Klaus Berger/ Christiane Nord, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, 1999, 1300; zu der Homilie s. 1301– 1318). Melito feiert das christliche Ostern noch in Entsprechung zum jüdischen Osterfest in der ersten Vollmondnacht im Frühling am 14./15. Nisan (Ex 12,2.6). Melito schreibt einleitend:

„Die Worte des Geheimnisses, das somit [in der Erzählung vom Auszug aus Ägypten] verkündet worden ist, will ich nun entschlüsseln. (…) Nun begreift also, ihr Lieben: Es geht um etwas, das zugleich neu und alt, ewig und zeitlich, vergänglich und unvergänglich, sterblich und unsterblich ist. Das Geheimnis des Passah war alt, denn es steht im Gesetz. Es ist neu, denn es betrifft Jesus, Gottes Wort. Es geschah in der Zeit, weil es ein Entwurf, ein Modell von etwas Künftigem war. Es ist ewig, denn dadurch schenkt Gott seine Gnade“ (1301).

 

Das jüdische Pascha als vorläufiges Modell des christlichen

Nach diesem Schema „zeitlich – ewig“ liefert das Alte Testament das vorläufige Modell für die ewige Erlösung durch den Messias, „der alles in sich umfasst“ (1302). Das Passahfest versteht Melito als „Mysterienfeier“, bei der „Israel zum Schutz versiegelt worden war“ (1303). Durch das Siegel Gottes lebt Israel wieder im „Bund“ mit Gott; dagegen werden die Ägypter (beziehungsweise jede „Erstgeburt“) mit Pharao als Sinnbild der Todesmacht „zum Fraß des Todes“. Aber: „Der Tod des Lammes war für das Volk eine schützende Mauer. Das ist ein unerhörtes, unsägliches Geheimnis: Die Schlachtung des Lammes wurde zur Rettung für Israel“ (1304). Für Melito kündigt sich darin Gottes Absicht an; denn die Ereignisse im Alten Testament und Alten Bund „sind ein Modell für das Zukünftige“ (1305). Das Modell als Vorausbild oder zeitliches Abbild des Ewigen besteht dabei „aus Wachs oder Ton oder Holz“, also einem vergänglichen Baustoff, das „dem Eigentlichen und Wahren“, der gemeinten Sache selbst, wenn sie gekommen ist, weichen muss:

„Gottes Heilstat und das, was er wirklich ist, wurden im Volk Israel vorher abgebildet. Und die Lehren des Evangeliums wurden vom Gesetz vorher verkündet. Das Volk Israel war Modell und Entwurf. Das Gesetz war als Gleichnis aufgeschrieben. Das Evangelium legt das Gesetz aus und ist seine Erfüllung. Die Kirche ist die Herberge der Wahrheit. Das Modell ist wertvoll, solange die eigentliche Wirklichkeit nicht da ist. (…) Das Gesetz war großartig, bevor das Licht des Evangeliums aufstrahlte. Doch seitdem die Kirche entstanden ist, seitdem das Evangelium voransteht, ist das Modell bedeutungslos geworden. Es hat seine Bedeutung an die eigentliche Wirklichkeit abgegeben“ (1306f).

Das Verhältnis zwischen Altem und Neuem Bund wird hier als ‚Ersatz‘ (Substitution) verstanden, was das Alte Testament und das Judentum überflüssig zu machen scheint: Die Kirche tritt an die Stelle Israels, das Evangelium an die Stelle des Gesetzes, der Erlöser Jesus an die Stelle des Erlösers Mose, das Wertvolle an die Stelle des wertlos Gewordenen: „Einst war das Blut des Lammes wertvoll, doch jetzt ist es wertlos, weil der Herr uns den Geist gesandt hat. (…) Einst war das irdische Jerusalem wertvoll, doch jetzt ist es wertlos, weil wir das himmlische Jerusalem haben“ (1307). Diese Gegenüberstellung scheint sich auf den Hebräerbrief berufen zu können, der ebenfalls den Alten und den Neuen Bund als irdisches „Abbild“ und „himmlische Wirklichkeit“ kontrastiert; allerdings sagt er auch: „Wir haben hier keine Stadt, die bestehen bleibt, sondern wir suchen die künftige“ (Hebr 13,14; vgl. 8,8,5f). Das heißt, das eschatologische Heil liegt auch für Christen in gewisser Weise noch in der Zukunft, auch wenn es schon im Geist antizipiert und vergegenwärtigt wird.

Wenn die göttliche Himmelsstimme auf dem Berg der Verklärung, wo sich zu Jesus auch Mose und Elija gesellen, befiehlt: „Auf ihn (Jesus) sollt ihr hören“ (Mk 9,7), dann sind Thora und Prophetie nicht abgetan, sondern als bleibende Zeugen für Jesus in Anspruch genommen. Das heißt, die neutestamentliche Verkündigung muss ihren Anspruch bewahrheiten, die Erfüllung und Vollendung des Alten Testaments in der Perspektive der vom Geist ermöglichten Hoffnung zu sein, dass also ihr Anspruch zu Recht besteht und keine willkürliche oder gar falsche Behauptung ist.

 

Die Vorbereitung der Erlösung in der Heilsgeschichte

Um den Menschen nach der Ursünde Adams am ‚sechsten Tag‘ mit sich wieder zu versöhnen und zu vereinen, wurde „das Erlösungsgeheimnis des Herrn … von langer Hand gestaltet“ und vorbereitet, angefangen bei Abel, der von seinem Bruder Kain erschlagen wird, über den zum Brandopfer gebundenen Isaak, den verkauften Josef von Ägypten, den im Binsenkörbchen ausgesetzten Mose und all die anderen leidenden Propheten mit dem Höhepunkt des leidenden Gottesknechts (Jes 53,7f).

„Blicke auch auf das Lamm, das in Ägypten geschlachtet wurde, das die Ägypter schlug und durch sein Blut Israel rettete“ (1309f; vgl. 1311). „Durch den Heiligen Geist, der nicht sterben kann, hat er den menschentötenden Tod getötet. (…) Er erlöste uns aus der Dienstbarkeit gegenüber der Welt wie aus dem Land Ägypten. Er befreite uns aus der Sklaverei des Teufels wie aus der Macht des Pharao“ (1311). Jesus stirbt am ‚sechsten Tag‘ (Karfreitag) zeitgleich mit der Schlachtung der Lämmer am Rüsttag zum Paschafest im Tempel. Die mehr als 150 000 im Jerusalemer Tempel geschlachtete Osterlämmer wurden nach Hause getragen, wo sie die hölzernen Spieße „kreuzförmig durchbohrten“ (Photina Rech, Inbild des Kosmos I, 1966, 241-279: Lamm, 255; vgl. 264). „Wie das Kreuz, so ist auch das Lamm die einsichtige Hieroglyphe, mit der Gottes Finger das heilige Erlösungsopfer seines Sohnes in die Bücher der Schöpfung und der Neuschöpfung eingeschrieben hat“ (265). Melito beschuldigt Israel, es habe „den getötet, der dich lebendig gemacht hat“:

„Du hast den Herrn getötet am großen Fest. … Du hast dem Herrn unerhörte Leiden zugefügt, deinem Herrn, der dich geschaffen, geformt und geehrt und dir den Namen ‚Israel‘ gegeben hat, das heißt: ‚der Gott sieht‘. … Du hast den Herrn nicht erkannt, du Israel hast nicht gewusst, dass dieser der erstgeborene Sohn Gottes ist, der vor der Morgenröte geboren ist und selbst das Licht geschaffen hat; der den Tag leuchten ließ und die Finsternis vom Licht schied…“ (1312f).

 

Der an Israel gerichtete Vorwurf des „Gottesmords“

In diesem Tenor geht Melito die ganze biblische Heilsgeschichte durch gemäß der Aussage des Paulus, dass „unsere Väter alle unter der Wolke waren, alle durch das Meer zogen und alle auf Mose getauft wurden in der Wolke und im Meer“, und dass Israels Geschichte als Vorausbild sowie „als warnendes Beispiel“ zu verstehen ist (1 Kor 10,1.6). Für Melitos Verständnis der Welterlösung im Kreuzestod des Messias und Schöpfers der Welt ist wichtig, dass dieser Tod in aller (Welt-)Öffentlichkeit gestorben wird:

„Der ungerechte Mord an dem Gerechten geschah mitten auf der Straße, mitten in der Stadt, am helllichten Tag, als alle zuschauten. (…) Der die Erde aufgehängt hat, wurde aufgehängt. Der die Himmel angenagelt hat, wurde angenagelt. Der die himmlische Welt befestigte, wurde am Kreuz befestigt. Der Herr wurde geschmäht. Gott wurde ermordet. Der König Israels wurde hingerichtet durch Israels Hand. (…) Die Gestirne wandten sich ab von ihrer Bahn, und der Tag verfinsterte sich, um den zu verbergen, der nackt am Kreuz hing“ (1316).

Nicht die Absicht, Israel zum ‚Gottesmörder‘ abzuqualifizieren, führt hier die Feder des Bischofs, sondern eher die Lust am ins Extrem gesteigerten Paradox. Gleichwohl hat von da an das Wort vom ‚Gottesmord‘ seine unheilvolle Wirkung entfaltet, wie Jan-Heiner Tück herausstellt: „Melito hat die Schuld an der Kreuzigung Jesu einseitig und pauschal dem Volk Israel angelastet, ohne die Kapitalgerichtsbarkeit der römischen Instanzen zu erwähnen oder weitere Differenzierungen zwischen der jüdischen Führungselite und dem Volk oder den damals und den heute lebenden Juden anzubringen. Mit dem steilen Wort vom Gottesmord aber war ein folgenreicher Anfang gesetzt, der in den christlichen Adversus-Judaeos-Traktaten eine verhängnisvolle Fortsetzung gefunden hat“ (Gottesmord? Die Paschahomilie des Melito von Sardes, in: IKaZ 47 [2018], 200-205, 204). Tück sieht die Predigt von einer „eigentümlichen Dialektik geprägt. Einerseits tritt sie für die Beibehaltung des jüdischen Erbes ein, andererseits richtet sie sich scharf gegen die Juden, die dieses Erbe falsch verwaltet haben“ (200f).

 

Die Einheit von Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten

In der alten Kirche werden Kreuzigung (als ‚Erhöhung‘) und Ostern mit Himmelfahrt und Pfingsten noch als Einheit verstanden; so sagt der Liturgiewissenschaftler Rupert Berger: „Die fünfzig Tage österlicher Hochfreude, die Pentekoste, feiern gleichfalls diesen einen Vorgang der Erhöhung des Herrn. Freilich lassen sich in der Erhöhung Stufen unterscheiden; das Neue Testament spricht von Auferweckung, Auffahrt, Inthronisation durch die Rechte Gottes, Geistsendung und Wiederkunft. Unser Empfinden feiert diese einzelnen Stadien der Erhöhung je an einem eigenen Tag, in Wirklichkeit werden sie in jeder Feier zusammen begangen. Das Johannesevangelium lässt alle Stufen des Erhöhungsvorgangs ganz deutlich am Ostertag selber geschehen. Der fünfzigste Tag feiert nicht minder das volle Erhöhungsgeschehen. Pfingsten ist ja kein Fest des Heiligen Geistes; es ist überhaupt kein selbstständiges Fest, es ist Besiegelung der Osterfeier, es erbringt in der Geistsendung den sichtbaren Beweis für die Erhöhung des Herrn“ (Ostern und Weihnachten. Zum Grundgefüge des Kirchenjahres, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 8/1963, 4).

Zu Joh 20,17 und 20,23 heißt es: „So sind Auferstehung, Himmelfahrt und Geistsendung deutlich Inhalt des ersten Ostertages“ (ebd. Anm. 19). Nach Jean Daniélou umfasste das christliche Osterfest ursprünglich „das ganze Mysterium Christi: Menschwerdung, Leiden, Auferstehung, Himmelfahrt und Geistsendung“ (Liturgie und Bibel. Die Symbolik der Sakramente bei den Kirchenvätern, 1963, 322); zum jüdischen Paschafest führt Daniélou aus: „Das Fest beginnt Mitte des Monats, am 14. Tag, wenn der Mond voll ist und es somit am Ende dieses Tages keine Finsternis gibt; er ist vielmehr ganz und gar hell, da die Sonne vom Aufgang bis zum Abend leuchtet und der Mond vom Abend bis zum Sonnenaufgang“ (300, mit Bezug auf Philo).

 

Die Symbolik des zu- und abnehmenden Mondes

Der abnehmende Mond ist für Cyrill von Alexandrien „das Sinnbild der bösen Mächte…, die mit der Auferstehung Christi weichen müssen“: „Christus, das wahre Lamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt, ist für uns gestorben und hat den Ruhm des Teufels zunichte gemacht. Dieser muss nämlich abnehmen und mehr und mehr verschwinden, da die Völker sich anschicken, zum Frieden und zur Liebe Christi emporzusteigen und sich im Glauben zu ihm zu bekehren“ (zit. ebd. 303). „Damit die Gerechtigkeit aufgehen kann, muss der Mond, das ist der Teufel, der Fürst der Nacht, der hier symbolisch Mond genannt wird, vergehen.“ Der Mond wird auch gesehen als „Aufenthaltsort der Toten“ und Sinnbild der „trügerischen Welt der Sünde“, des ‚törichten‘ Menschen (Sir 27,11: „Der Tor ist veränderlich wie der Mond“) und der „Welt der Täuschung und Lüge“ (304).

Der 19-jährige Mondzyklus multipliziert mit dem 28-jährigen Sonnenzyklus bildet den Osterzyklus von 532 Jahren, den Dionysius Exiguus Anfang des 6. Jahrhunderts für seine Osterberechnung verwendet hat, ausgehend vom 25. März. Nach einem Text des Kirchenhistorikers Eusebius (4. Jh.) gibt der Osterkanon des Bischofs Anatolius (2. Jh.) für den 25. März folgende Begründung:

„Da es nämlich zwei Zeichen der Tagundnachtgleiche gibt, das eine im Frühjahr, das andere im Herbst, und diese diametral einander gegenüber liegen, und da der Ostertag auf den 14. des Monats gegen Abend angesetzt ist, so wird der Mond die Stelle einnehmen, die der Sonne diametral gegenübersteht, wie man das bei den Vollmonden sehen kann. Es wird also die Sonne im Zeichen der Frühlings-Tagundnachtgleiche, der Mond aber notwendigerweise im Zeichen der Herbst-Tagundnachtgleiche stehen“ (zit. nach Herbert Schade, Lamm Gottes und Zeichen des Widders, 1998, 102).

 

Die Symbolik des Frühlings und der Fruchtbarkeit

In seinem Ostertraktat legt Eusebius dar, warum außer dem Frühling „die anderen Jahreszeiten sich für die Auferstehung Christi nicht eignen“: „Es bleibt noch der lichtstrahlende Frühling; er ist für das ganze Jahr in gewisser Weise, was das Haupt für den Leib ist. Die Sonne durchläuft den ersten Teil ihrer Bahn, und der Mond macht in seinem vollen Glanz die ganze Nacht zum hellen Tag. Vorüber ist das Wüten der winterlichen Stürme, vorüber die langen Nächte, vorüber die Wasserfluten. (…) Die Felder mit ihren körnerschweren Ähren und fruchtbeladenen Bäumen im Schmuck der göttlichen Gaben geben den Arbeitern bei der Ernte den Lohn ihrer Mühen“ (zit. nach Daniélou, Liturgie und Bibel, 292).

Ähnlich äußert sich Gaudentius von Brescia: „Jesus, der Herr, setzte die selige Osterfeier auf eine passende Zeit fest, nach dem Herbstnebel nämlich, nach der Öde des Winters und bevor die Sonnenhitze einsetzt“ (zit. ebd. 295). Der Frühling wird einerseits als eine ‚natürliche Auferstehung‘ nach den Unbilden der dunklen und stürmischen Winterzeit gewürdigt, andererseits wird grundsätzlich das Thema der Schöpfung aufgenommen, ist doch „der Frühling das Bild der zweiten Schöpfung in der Auferstehung Christi“ und so „schon in der natürlichen Ordnung eine Art Jahresgedächtnis der Schöpfung“ (291). Eusebius legt Wert darauf, dass „das christliche Ostern sowohl die [heidnische] Naturreligion als auch die Religion der Hebräer in sich einschließt, denn er fährt fort“:

„All diese Dinge finden im Fest des Heiles ihre Erfüllung. Das Lamm war er (Christus) selbst in dem Leibe, den er sich anzog; er war auch die Sonne der Gerechtigkeit, da ein göttlicher Frühling und eine heilbringende Wende das Leben der Menschen vom Bösen zum Guten führte. Die Ungeister, die die Völker irreführen, haben mit den winterlichen Plagen ihr Treiben eingestellt, und eine Fülle neuer Früchte bekränzt mit vielerlei Gnadengaben des Heiligen Geistes die Kirche Gottes. Die vom göttlichen Wort bebauten Gefilde tragen die schönen Blüten der Heiligkeit, und – befreit von der Geißel der Finsternis – wurden wir am Tage des Lichtes der Erkenntnis gewürdigt“ (293).

Wenn das von Eusebius bevorzugte Thema lautet „Christus, die Sonne, hat sich mit dem Frühlingsmotiv verbunden“ (292), dann bedeutet dies natürlich nicht, dass am Ursprung des christlichen Osterfestes das Frühjahrserwachen oder das germanische Frühlingsfest zu Ehren der Göttin ‚Ostara‘ oder ‚Ostera‘ steht, der Eier als Fruchtbarkeitsopfer dargebracht wurden. Denn unabhängig von der Frage, ob es ein solche Göttin in der germanischen Mythologie überhaupt je gegeben hat oder ob sich der Name ‚Ostern‘ nicht vielmehr vom altdeutschen ‚ostarun‘ (Morgenröte) ableitet, weil die Auferstehungsliturgie ja am Ostermorgen gefeiert wurde, geht Ostern als ‚achter Tag‘ der Neuschöpfung immer schon über die Sieben-Tage-Schöpfung hinaus. Eine Reduzierung von Ostern auf ein ‚heidnisches‘ Frühlingsfest ist von daher ausgeschlossen.

Daraus folgt aber nicht, dass der Frühling für das Christentum keine theologische Relevanz mehr hätte. Auch als Welt und Natur übersteigende Religion bleibt das Christentum auf den Jahres- und Schöpfungsanfang in der Symbolik des Frühlings verwiesen, woran die Ostersymbolik wie bemalte Ostereier und Osterhasen (als Fruchtbarkeitssymbol und Mondtier) erinnert. Joseph Ratzinger unterstreicht, dass die Jahreszeit dem Heilsgeschehen, wie es die Liturgie im Kirchenjahr begeht, nicht einfach äußerlich ist: Der neue Morgen der Natur ist ein Zeichen, „das wirklich zur Osterbotschaft gehört: Die Schöpfung redet von uns und zu uns; wir verstehen uns selbst und Christus nur recht, wenn wir auch die Stimme der Schöpfung zu hören lernen“ („Das Lamm erlöste die Schafe“. Betrachtungen zur österlichen Symbolik, in: Schauen auf den Durchbohrten, 93-101, 95).

 

‚Geschichte‘ als das große Paradigma der modernen Welt

Das neuzeitliche Paradigma der ‚Geschichte‘, das nach Jürgen Moltmann „zum großen Paradigma der modernen Welt geworden“ ist, hat demgegenüber den Zusammenhang von Auferstehung und Frühling aus dem Blick verloren; denn mit ‚Geschichte‘ „meinte man nur die menschliche Welt im Unterschied zur geschichtslosen Natur. ‚Geschichte‘ sollte das Reich der Freiheit sein, Natur das Reich der gesetzmäßigen Notwendigkeit. Mit dieser Unterscheidung aber wurden der menschliche Geist naturlos und die Natur geistlos aufgefasst. Nur in der Medizin ließ sich diese Aufspaltung der Wirklichkeit nicht durchführen. Jede Frau und jeder Mann sind eine leibseelische Einheit, Geist und Natur sind in der menschlichen Existenz untrennbar verbunden. Das moderne Paradigma ‚Geschichte‘ wird der leiblichen und damit natürlichen Existenz der Menschen nicht gerecht“ (Auferstehung der Natur. Ein Kapitel der kosmischen Christologie, in: Concilium 5/ 2006, 563-570, 563).

Moltmann zufolge ist die Auferstehung Christi aus dem Tod als Anfang der universalen „Vernichtung des Todes“ (1 Kor 15,26) „nicht nur als Gottes eschatologische Geschichtstat, sondern auch als der erste Akt der Neuschöpfung dieser vergänglichen Welt zu ihrer wahren und ewigen Gestalt zu verstehen. Auferstehung ist nicht nur der Sinn der Geschichte, sondern auch der Sinn der Natur“ (564). Danach gehören Auferstehung und Schöpfung eng zusammen (mit Verweis auf Röm 4,17), „denn die Auferweckung der Toten und die Vernichtung des Todes sind die Vollendung der ursprünglichen Schöpfung. Das Licht der Ostererscheinungen wurde schon sehr früh als das Morgenlicht des ersten Tages der Neuschöpfung aller Dinge verstanden. Später nannte man den Sonntag auch den ‚achten Tag‘, weil er als Auferstehungstag gefeiert wird (565).

 

Der Sieg des Schöpfers über den ‚Chaos-Drachen‘

Der Einbruch von Chaos, Sünde und Tod in die ‚sehr gute‘ Schöpfung ist das eigentliche Drama, das mit dem Paschafest seinen guten Ausgang nimmt. Die Kreuzigung ist von daher die siegreiche ‚Thronbesteigung‘ des wahren Weltenkönigs, die – wie schon der Sieg des Schöpfers über den ‚Chaos-Drachen‘ bei der Weltschöpfung, der am Neujahrstag (Frühlingsanfang) im Tempel von Jerusalem gefeiert wurde – mit der Neuschöpfung der Auferstehung zusammenfällt. Im gleichen Sinn ist auch der Exodus Israels zu verstehen: „In ihnen begeht die nachexilische Gemeinde festlich ihre eigene Befreiung in den Chaoswassern des ‚Schilfmeeres‘ als eschatologischen Sieg Jahwes über alle widergöttlichen Mächte“ (Peter Weimar, Kult und Fest. Aspekte eines Kultverständnisses im Pentateuch, in: Klemens Richter [Hg.], Liturgie – ein vergessenes Thema der Theologie? 1986, 65-83, 78).

Der gottbildliche Mensch ist als Priester der Schöpfung auf diese Welt-Liturgie hin geschaffen, in deren Mitte das „seit Anbeginn der Welt“ geschlachtete Osterlamm steht (1 Petr 1,20; Offb 5,6.9). Das am Kreuz geschlachtete Lamm Gottes ist zugleich der einzige und wahre Hohepriester, der sich selbst in seinem Kreuzestod ‚ein für allemal‘ für die Errichtung des kosmischen Heiligtums des Himmels, das heißt seines verklärten Auferstehungsleibes, als Opfer dargebracht hat (Hebr 9,24-28). Nach Bonaventura trug der blutüberströmte Jesus „das Gewand des Hohenpriesters, das rot verziert war“ (Lignum Vitae, 31. Betrachtung).

„Schon wähnte jener blutdürstige Drache, der reißende Löwe, er habe den Sieg über das getötete Lamm errungen. Doch als die Seele abstieg in das Reich des Todes, begann die Macht der Gottheit aufzuleuchten. In dieser Macht erhob sich der unvergleichliche starke Held, unser Löwe aus Juda (Offb 5,5), gegen den bewaffneten Starken (Lk 11,21) und entriss ihm die Beute. Er zerbrach die Pforten der Unterwelt, fesselte die Schlange, ‚entwaffnete die Mächte und Gewalten und stellte sie öffentlich zur Schau; er führt sie mit sich im Triumph‘ (Kol 2,15)“ (33. Betrachtung: Jesus, durch seinen Tod triumphierend).

 

Jesu Abstieg ins Totenreich und sein Aufstieg

An diese Betrachtung von Jesu Descensus in das Totenreich schließt Joseph Ratzinger seine Betrachtung zum Pascha Jesu an: Jesus „ging hinaus in die Nacht. Er hat das Chaos nicht gefürchtet, sich vor ihm nicht versteckt und verborgen, sondern ist hineingegangen bis in seinen tiefsten Grund, bis in den Rachen des Todes: ‚hinabgestiegen in das Reich des Todes‘ – beten wir. (…) Glauben heißt immer auch: mit Jesus Christus hinausgehen, das Chaos nicht fürchten, weil er der Stärkere ist. (…) Er hat sich als der Stärkere dem Starken – dem Tod – entgegengestellt (Lk 11,21-23). Die Liebe Gottes – seine Kraft – ist stärker als die Mächte der Vernichtung“ (Das Pascha Jesu und der Kirche, 91f). Die Ostkirche sieht in der Befreiung der vom Tod ‚gefangenen‘ Gerechten vor der Ankunft des Messias im Fleisch (vgl. Hebr 11,39f) durch Jesu Abstieg und Aufstieg das zentrale Osterbild, das Michael Kunzler mit der Gründung der Kirche verbindet:

„Im Kreuz seines Sohnes hebt Gott die Schöpfung zu sich empor, und die Kirche ist die raumzeitlich-realsymbolische Erscheinungsweise dieses Opfers Gottes, der ‚aufopfernden‘ Kommunikation Gottes mit der Welt, durch die Gott selbst die Schöpfung zu sich emporträgt. Die Kirche ist ‚der Ort und das dramatische Ereignis der neuen Schöpfung, der Erlösung, der Verklärung, der Vergöttlichung und der Verherrlichung des Menschen, der Gemeinschaft von Menschen untereinander und des ganzen sichtbaren und unsichtbaren Kosmos‘.“ „Als Gestorbener fasst er alle Wirklichkeit zusammen, Ungeschaffenes und Geschaffenes, vom Totenreich der Hölle bis zum Thron der Dreifaltigkeit. Diese Zusammenfassung allen Seins im toten Christus im Geheimnis der Höllenfahrt ist zugleich der Beginn von Ostern, wie es die byzantinische Osterikone darstellt... Menschwerdung, Kreuzestod, Höllenfahrt, Auferstehung und Himmelfahrt sind so betrachtet Teilaspekte eines einzigen Heilsdramas, das die Heraufbringung des Menschen in das göttliche Leben zum Ziel hat und darum mit dem Begriff des ‚Opfers‘ bezeichnet werden kann, wenn man ihn vom ‚Herauftragen‘ (Anaphora) her versteht“ (Die Liturgie der Kirche, 1995, 94; 80).

 

Die Einheit der drei österlichen Tage

Das Pascha-Mysterium der drei österlichen Tage (Triduum Sacrum), das heißt vom sechsten Tag über den siebten zum achten Tag, bildet eine untrennbare Einheit; erst so verliert der Karfreitag seine Ambivalenz und wird zum Tag wahrer Hochzeitsfreude: „Siehe, durch das Kreuz ist Freude in alle Welt gekommen“ (orthodoxer Hymnus aus dem Stundengebet der Osterwoche, zit. nach Holger Kaffka, „Die Schädelstätte wurde zum Paradies“. Das Kreuz im orthodoxen Gottesdienst der byzantinischen und slawischen Tradition, 1995, 37). Dieser Jubel ertönt durch die ganze Osterwoche immer wieder: „Da die ganze Woche eine Woche der Osterfreude ist, ist sie auch eine Woche des Kreuzeslobes. In diesem Sinn zieht sich die gemeinsame Verehrung von Kreuzesleiden und Auferstehung wie ein roter Faden durch die ganze Osterzeit. Allenthalben hören wir die Osterfreude hervorsprudeln, die immer verbunden ist mit der Erinnerung an das rettenden Leiden Christi am Kreuz“ (50f).

Wie im jüdischen Pascha die Israeliten „Opferdienst und Priesteramt“ versehen (Philo, s. o.), so auch haben alle Christen mit der Taufe Anteil an der „Salbung“ des Geistes (1 Joh 2,20.27) und so an Christi Priestertum und an seinem Kreuzesopfer: „Christus bezieht die Gläubigen in seine Hingabe ein; sie werden in ihm selbst zu Opfernden. Alle in der Kirche sind ‚Priester und Opfer zugleich, alle sind Lehrer und Anführer zum Heil für sich selbst, für andere ihnen nahe stehende Gläubige, überhaupt für andere Menschen…“ (Michael Schneider, Das Wirken des Heiligen Geistes und der Dienst des Priesters in der Byzantinischen Liturgie. Zur epikletischen Grundlegung der eucharistischen Wandlung, in: George Augustin u.a. [Hg.], Priester und Liturgie, 2005, 93-116, 104).

 

Salböl des Geistes: Duft der Erkenntnis Christi

Die Salbung vor der Passion und die beabsichtige Salbung des Leichnams des Gekreuzigten mit „wohlriechenden Ölen“ oder Spezereien am Ostermorgen durch die Frauen, die zum Felsengrab in der Erdtiefe eilen, „als eben die Sonne aufging“ (Mk 16,1f), offenbart noch einmal, dass von dem Geist-Gesalbten kein Todesgeruch (vgl. Joh 11,39) ausgeht, sondern der „Lebensduft, der Leben verheißt“ (2Kor 2,16). Im „Siegeszug“ des Auferstandenen werden von daher auch die Christen zu Menschen, die den „Duft der Erkenntnis Christi“, das heißt den Wohlgeruch des Geistes der Liebe aus dem Gott wohlgefälligen Kreuzesopfer, in der Welt verbreiten: „Denn wir sind Christi Wohlgeruch für Gott unter denen, die gerettet werden“ (2Kor 2,14f). Ohne das Feuer des Geistes gibt es kein wohlgefälliges ‚Ganzbrandopfer‘ mit seinem Wohlgeruch. Ihm entspricht im natürlichen Bereich der Duft des Blumenkleides der hochzeitlich geschmückten Frühlingserde. Weinreb erklärt zu den wohlriechenden Ölen, hebr. besamim, dass man das Wort

„auch als ‚beschamajim‘ lesen kann: ‚im Himmel‘. Spezereien riechen gut, der Duft ist etwas, das wir nur riechen können. ‚Reach‘, Duft, wie ‚ruach‘, Geist. Es ist etwas, das nicht sichtbar ist, aber als Unsichtbares kann man es genießen. Duft ist das einzige, das man unsichtbar genießen kann. Alles andere kann man sehen, Duft kann man riechen, er ist da. (…) Der Duft nach dem Ende des Sabbat, wo der achte Tag am Abend anfängt, ist ein Brauch auch im Judentum; aber der achte Tag ist verschwunden, es ist wieder der erste Tag. Der achte Tag ist nicht da, da ist der Duft, man kann den achten Tag riechen, geistig…“ (Das Markus-Evangelium. Der Erlöser als Gestalt des religiösen Weges, Bd. I, 1999, 817).

 

Das Ursymbol des Labyrinths: Österliche Er-fahrung

Zur spirituellen Erfahrung wird der ‚Abstieg ins Totenreich‘ beim meditativen Begehen eines Labyrinths, das „zu den ältesten Menschheitssymbolen“ gehört (Hildegard Marcus, Spiritualität und Körper. Gestaltfinden durch Ursymbole, ³2008, 182-215: Das Labyrinth als Ursymbol, 185). Das größte aller Kirchen-Labyrinthe ist das Bodenlabyrinth im Eingangsbereich in der Kathedrale von Chartres (um 1260) mit einem Gesamtdurchmesser von ca. 12 Meter und einer Wegstrecke von knapp 300 Meter. Repräsentiert wird Mitte und Ziel durch eine sechsblättrige Blume: „Sechs runde Blütenblättersteine umstehen einen runden Mittenstein, der einen Durchmesser von rund 3 m Größe aufweist“: Das Hexagon findet „in der Siebenheit seine Vollendung und seinen Glanz“ (205).

Das Umgangslabyrinth hat „einen einzigen, festgelegten Anfang, der identisch mit dem Eingang ist“, während das kretisch-klassische Muster „vier Anfangs- bzw. Endpunkte“ aufweist mit dem Minotaurus in der Mitte (194). Von den elf Umläufen sind sechs rechtsläufig, weshalb das Chartres-Labyrinth „eigentlich nicht ins ‚Verderben‘ führen“ kann (199). In Todesnacht und Untergang wird so schon die Hoffnung auf Auferstehung er-fahren:

„Mit der Begehung des labyrinthischen Weltbildes durch einen christlichen Bußwallfahrer wurde eine Synthese vollzogen von alter Menschheitsüberlieferung und der Feier des Christusmysteriums. In Christus wurde eine nunmehr unvergängliche Sonne verehrt, und das Wiedererwachen der Natur in der siegreichen Frühlingssonne wurde zum Bild für das ‚welt- und seelen-bewegende Ereignis der Auferstehung‘ in der österlichen Feier von Tod und Auferstehung Christi. ‚Durch die Erlösertat Christi wurde die Todesmitte zum Mutterschoß der Wiedergeburt gewandelt‘ [Alfons Rosenberg]. (…) Auf dieser existentiellen Ebene der Labyrinth-Meditation wird der Mensch u einem End- und Todespunkt geführt, das bedeutet, zur Erkenntnis der aus eigener Kraft nicht aufhebbaren Gebrochenheit des Menschen; handelt es sich doch im ersten Teil dieses Labyrinthmeditationsweges auch um den Abstieg in die untersten Schichten der eigenen Seele. Dort begegnet der Meditierende zu seiner Überraschung dem Ungeheuer in der eigenen Brust. ‚Erst die Erkenntnis der dem Menschen innewohnenden Minotaurusnatur erweckt das Verlangen nach Heilung und Gnade und eröffnet den Zugang zur Mitte, zur Begegnung mit dem Sonnenhelden Christus in der Tiefe des Höllenkreises der Welt oder des eigenen Innern‘“ (203f; Rosenberg).

Die konzentrischen Kreise des Labyrinths mit 28 Kehren (analog zu den 28 Tagen des Mondlaufs) von 180° erinnert „an das Auf- und Umschlagen einer Wasser-Welle“ (rechts- und linksläufig, also ‚mitsonnen‘ und ‚gegensonnen‘). „Das Labyrinth ist speziell für Pilger im weitesten Sinn gedacht“, es war „ein heimatlicher Buß- und Pilgerweg, ein räumlich-zelebriertes Kyrie eleison der Messe. (…) Der bußwillige Mini-Pilger absolvierte mit diesem Weg gewissermaßen ein Reinigungs-Ritual, in das er durch die rhythmischen Schwingungen der vorgegebenen Wegfigur eintauchte wie in einem kultischen Rundtanz. Da gab es kein halbherziges Abbrechen oder Umkehren mehr, denn alles in ihm geriet spürbar in einem Sog, der schließlich in der überraschend erreichten Mitte seinen Abschluss und sein erlösendes Ziel fand. Aus dieser Erfahrung schöpfte auch der alte Brauch, nach der anstrengenden Fastenzeit in der Kathedrale von Chartres österliche Reigen zu tanzen, die vom Bischof selber angeführt wurden. Diese Ostertänze werden auch für die Labyrinthe von Reims, Amiens und Auxerre berichtet“ (194-196).

 

Der Gekreuzigte als Vortänzer im mystischen Tanze

Die Architektur der Kathedrale lässt den goldenen Glanz der Abendsonne durch die Westfassaden-Rosette als „Abglanz ewigen, heilen Lebens“ auf den dunklen Fries des Bodenlabyrinths fallen. „Der im Labyrinth geläuterte, in sich geklärte Mensch wird selbst in ein geheimnisvolles ‚Rosenfenster‘ gewandelt werden“ (200). „Auf dem viergeteilten Labyrinthweg von Chartres erwacht der buß-pilgernde Mensch zu seiner leib-geistig-seelischen Ganzheit als kreuzgestaltiger Kosmos“ (202). Mehr noch: „Dem, der seine Lebenswegfigur in jeder Hinsicht gut einstudiert hat (in vielen Meditationen etwa), dem wird der Labyrinthweg zum Rhythmus, zum Tanz; denn der Tänzer ist mehr als ein Wanderer. ‚Wer weiß, was vorgeht, der tanzt‘“ (199; aus den apokryphen Johannes-Akten). Ostern als Sieg Christi über Sünde und Tod befreit zum Osterjubel- und -tanz. In dem Hippolyt zugeschriebenen Osterhymnus vom Beginn des 3. Jahrhunderts heißt es vom Gekreuzigten:

 „O Gekreuzigter, du Vortänzer im mystischen Tanze! O des geistlichen Hochzeitsfestes! O des göttlichen Pascha, übergehend von den Himmeln bis zur Erde und wiederum aufsteigend in die Himmel! O neue Feier aller Dinge, o kosmische Festversammlung, o Freude des Universums, o Ehre, o Lust, o Entzücken, durch die der finstere Tod vernichtet, das Leben dem All mitgeteilt, die Tore des Himmels geöffnet wurde“ (zit. nach Hugo Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung, 1984, 72f).

Der französische Philosoph Ernest Hello greift diesen Osterjubel auf und verbindet ihn wieder mit dem Frühling: „Ostern! Welch ein Wort! Welch ein Frühling! Welch ein Freudenschrei! Ostern, das ist das allgemeine Fest! Alles trachtet davonzufliegen“ (Mensch und Mysterium, 1950, 389).

 

Klaus W. Hälbig

 

 

 

 

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